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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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lang und sprach dann mit Jowa, der ihm ein Stück Leinwand und einen Bleistiftstummel brachte, dessen Ende er zuvor im Feuer geschwärzt hatte. Der Lama zog sich hinter einen abseits gelegenen Felsvorsprung zurück und begann unter Rezitation eines Mantras mit der Arbeit. Jowa hörte zu und beobachtete ihn eine Weile, holte dann einen alten Besen von der Ladefläche des Lastwagens, klemmte ein Ende unter eines der Räder und brach den Stiel ab.
    Als Gendun zurückkehrte, legte er das Stück Stoff vor den Nomaden auf den Boden. Der Mann stieß einen Laut der Überraschung aus und hob den Kopf seiner Frau an, damit auch sie sah, was der Lama ihnen dort gebracht hatte. Unterdessen band Jowa die Leinwand an den Besenstiel. Es handelte sich um einen sehr alten und selten angewandten Zauber. Er bestand aus der Zeichnung eines Skorpions, in dessen Maul Flammen loderten. Aus den Schultern des Tiers ragten Dämonenköpfe hervor, zu deren beiden Seiten etwas geschrieben stand. Eine Bannformel gegen Dämonen, der durch die Worte eines Lamas Macht verliehen worden war.
    Der Mann erhob sich und nickte feierlich. »Wir werden eine Ziege freikaufen, Rinpoche«, sagte er. »Unser alter Priester hätte uns bestimmt dazu geraten.« Durch den Freikauf eines zur Schlachtung vorgesehenen Tiers, das daraufhin zumeist mit einem Band am Ohr gekennzeichnet wurde, beschwichtigte man die Gottheiten, die vor den Buddhisten in Tibet geherrscht hatten.
    »Dann solltet ihr das auch tun«, entgegnete Gendun ernst.
    Jowa ließ den altersschwachen Motor des Lastwagens an und bog auf den Pfad ein. Shan beobachtete indessen, daß Gendun sich wieder hinter den Felsvorsprung zurückzog. Er folgte ihm und fand den Lama im Gras sitzend vor, die Augen nach Süden, in Richtung der Einsiedelei gewandt, in der er fast sein gesamtes Leben verbracht hatte.
    »Ich fürchte, es hat bereits angefangen«, sagte der Lama und bedeutete Shan, neben ihm Platz zu nehmen. »Wir haben es betreten, aber wir kommen zu spät.«
    »Was haben wir betreten, Rinpoche?« fragte Shan.
    Gendun ließ den Blick über die Berge schweifen und seufzte. »Es hat keinen Namen«, sagte er. »Es ist die Heimat der Dämonen, die Kindern nach dem Leben trachten.«
    Shan wußte, daß Gendun mit dieser Beschreibung keinen konkreten Ort meinte, sondern vielmehr von einer Geisteshaltung sprach, vom Bestandteil einer haßerfüllten Seele, der sich seinem Verständnis auf ewig entziehen würde.
    »Es ist ein einsames Land.« Gendun betrachtete das windumtoste Plateau. »Hier wurde ich geboren.«
    »Hier?« fragte Shan und folgte dem Blick des Lama. »Auf der Changtang?«
    Unter allen verlassenen und abgeschiedenen Regionen Tibets war die Changtang-Hochebene die verlassenste und abgeschiedenste.
    Gendun nickte. »Im Schatten des Kunlun-Gebirges. Aber als ich jung war, Xiao Shan, gaben meine Eltern mich zu den Mönchen, denn der Krieg brach über das Land herein, und die Mönche nahmen mich mit nach Lhadrung.« Xiao Shan. Gendun benutzte die alte chinesische Anrede für eine jüngere Person, wie es sonst vielleicht sein Vater oder Onkel getan haben würde. Kleiner Shan. Der Lama sah zu einer schwarzen Wolke, die über die Berghänge glitt und vermutlich einen Schneesturm mit sich brachte. »In meiner Erinnerung war dies eine glücklichere Gegend. Jetzt jedoch...« Der Lama wies auf den Pfad und seufzte. »Jetzt jedoch glaube ich, daß diese Straße uns an einen Ort führen wird, an dem du nicht sein solltest, Xiao Shan.« Es klang wie eine Entschuldigung. Gendun wollte damit andeuten, daß dermaßen viele Morde zwangsläufig das Interesse der Behörden wecken mußten. »Ich weiß, wie es um die Sache zwischen dir und den anderen Chinesen steht.«
    Drei Tage zuvor hatte Shan Brennmaterial für ihr Lagerfeuer gesammelt und bei seiner Rückkehr gerade noch mitbekommen, daß Jowa dafür plädierte, ihn zurückzuschicken. »Er wurde nie offiziell entlassen, sondern hat lediglich die Erlaubnis erhalten, sich frei im Bezirk Lhadrung zu bewegen«, hatte der purba dem Lama erklärt. »Außerhalb von Lhadrung gilt er nach wie vor als Krimineller, als entflohener Strafgefangener. Die Soldaten können das überprüfen.« Als Gendun nichts darauf erwiderte, hatte Jowa die Stimme erhoben. »Man wird ihn hinter das Gefängnis führen und ihm dort eine Kugel in den Kopf schießen. Und wir anderen werden uns wegen der Beherbergung eines flüchtigen Verbrechers verantworten müssen.«
    »Sollten wir alle uns demnach

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