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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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lieber von der Furcht gefangennehmen lassen?« hatte Gendun ihn ruhig gefragt und dann Shan zugenickt, der sich mit einem Arm voller Dungfladen genähert hatte.
    »Das ist bloß die Art der Regierung, mir ihre Wertschätzung zu bezeugen«, hatte Shan mit gezwungenem Lächeln festgestellt und dabei an die Mönche und Lamas im Arbeitslager gedacht, die sich bisweilen bei ihren Aufsehern dafür bedankten, daß man sie einem so unerbittlichen Test ihres Glaubens unterzog. Damit hatte das Gespräch geendet, und Shan hatte den Gedanken verworfen, seinerseits Jowa darum zu bitten, Gendun nach Hause zu bringen. Ihm war bewußt, welches Schicksal ihm selbst drohte, falls er in die Fänge der Behörden geriet. Aber er wußte auch, was in einem solchen Fall mit Gendun geschehen würde, der nicht nur keine offizielle Identität besaß, sondern zudem gesetzeswidrig ein Priester war. Es gab spezielle Orte für Leute wie Gendun, Orte ohne Licht und Wärme, Orte, an denen manchmal medizinische Experimente vorgenommen wurden oder Psychiater im Auftrag der Partei bestimmte Techniken ausprobierten, um reaktionäre Priester in dankbare neue Proletarier zu verwandeln.
    Ich weiß, wie es um die Sache zwischen dir und den anderen Chinesen steht. Gendun bezog sich nicht nur auf die physische Gefahr. Shan erinnerte sich an ihre letzte gemeinsame Lehrstunde, während der sie auf einem Felsen außerhalb der Einsiedelei gesessen hatten. Vier Monate lang hatte Gendun ihm erzählt, daß die Entlassung aus einem Gefängnis nicht automatisch die Freiheit bedeutete, denn schließlich hätten drei Jahre Sklavenarbeit seelische Narben hinterlassen, die nie mehr ganz heilen würden. Die größte Gefahr für Shan bestünde darin, sich wie ein Flüchtling zu verhalten, denn ein Flüchtling war nur ein Häftling ohne Zelle. Als der Lama dann vorsichtig durchblicken ließ, Shans größte Chance auf Heilung läge vermutlich außerhalb Chinas in irgendeinem anderen Land, hatte Shan ihm den zwei Monate alten Brief eines Beauftragten der Vereinten Nationen gezeigt, in dem man ihm politisches Asyl im Westen in Aussicht stellte, sofern er bereit sein würde, öffentlich über die Arbeitslager und Pekings systematische Vernichtung der Kulturgüter auszusagen. Vorausgesetzt, ihm gelang die Flucht aus China. Aber da ließe sich bestimmt etwas machen, hatte der purba gesagt, der den Brief zu ihm geschmuggelt hatte.
    Nun streckte Shan die Hand aus, an der noch immer Alias Blut klebte. So sprachen sie oft miteinander, nicht mit Worten, sondern durch Gebärden und Symbole. Es sterben hier Kinder, sagte diese Geste, und Gendun nickte bekümmert. Falls Shan nun floh, würde es ihm niemals gelingen, den furchtbaren Anblick des sterbenden Jungen zu vergessen, der ihn stumm, verängstigt und verwirrt angestarrt hatte.
    »Das einzig Konstante ist die Veränderung«, sagte Gendun. Dieser Satz war eine Art persönliches Mantra zwischen ihnen geworden, seit sie ganz am Anfang ihrer gemeinsamen Tage festgestellt hatten, daß diese Lehre nicht nur in Genduns buddhistisch geprägtem Leben eine Rolle spielte, sondern auch in den taoistischen Lektionen aus Shans Jugend auftauchte. Zusammen hatten sie erkannt, daß Shans Weg alles andere als gleichbleibend verlief und daß der verdorrte Geist, mit dem er aus China eingetroffen war, vorerst neue Wurzeln in Tibet geschlagen hatte, obwohl unter dem toten Holz noch so manche der alten Schößlinge verborgen lagen und sich mit den neuen Trieben verbanden.
    Jowa drückte auf die Hupe des Lasters, doch Gendun schien es nicht zu hören. Shan sah, daß er die Hände fest verschränkt hatte, als würde er etwas in ihnen bergen.
    Der Lama streckte die Arme aus, und als Shan ihm die eigene Hand entgegenhielt, ließ Gendun etwas hineinfallen. Eine Feder. Eine fünf Zentimeter lange Feder, die am unteren Ende ein zartes schwarzbraunes Muster aufwies, dann schneeweiß wurde und an der Spitze mit winzigen schwarzen Punkten übersät war, als hätte jemand sie flüchtig mit Tinte bestäubt. Fasziniert beobachtete Gendun, wie sie auf Shans Handfläche sank. Dann stand er auf und ging zum Wagen.
    Jowa gab schonungslos Gas, als wäre ihnen jemand dicht auf den Fersen. Der uralte Lastwagen polterte durch Schlaglöcher, rutschte immer wieder in die tief ausgefahrenen Furchen des Weges oder mußte unter heftigem Rütteln plötzlich zum Stehen gebracht werden, wenn im Schein des Standlichts die Überreste eines Steinschlags vor ihnen auftauchten. Jowa

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