Das Auge von Tibet
Felsspitzen, die wie Riesenhände gen Himmel aufragten. Er kurbelte das Fenster herunter und roch die kalte dünne Luft, die frisch von den Eisfeldern herabwehte. Seine Augen hatten dieses Gebiet noch nie erblickt, doch sein Herz erkannte es wieder.
»Wie lange sind wir schon in Tibet?« fragte er Jakli.
»Der Grenzverlauf ist hier nicht eindeutig festgelegt. Seit vielleicht zehn oder fünfzehn Kilometern.«
»Sie sind bestimmt erschöpft. Lassen Sie mich fahren.«
»Sie kennen den Weg nicht. Es ist nicht mehr weit.«
Sie erreichten einen hohen Grat und verringerten das Tempo, um den achtzig Kilometer weiten Blick auf die ChangtangHochebene zu genießen. In der Ferne bewegte sich ein großer brauner Schatten und floß über das Weideland - eine Herde wilder Tiere. Vielleicht Antilopen oder sogar Kiangs, die flinken Halbesel, die noch immer das Plateau durchstreiften. Einige Minuten später hielt Jakli den Wagen an und trat hinaus in den Wind. »Ich bin jetzt seit vier Jahren nicht mehr hier gewesen«, sagte sie. »Auf den Karten ist es nirgendwo verzeichnet. Können Sie es erkennen?«
»Ich war noch nie dort«, entgegnete Shan und blickte über die Schulter nach Norden. Ein plötzliches Schuldgefühl überkam ihn. Er hatte den Wasserhüter, die Kinder der zheli und Gendun zurückgelassen.
»Senge Drak heißt Löwenfelsen«, erläuterte Jakli. »Geformt wie ein Löwe.«
Sie musterten die umliegenden Gipfel und stiegen wieder ein. Jakli bog auf einen schmalen Pfad ab, der in flachem Winkel allmählich auf den nächsten Kamm hinaufführte. Oben hielt sie abermals an und deutete nach vorn. Der Berg, auf dem sie sich befanden, erstreckte sich als langgezogenes U nach Süden. Ihr gegenwärtiger Aufenthaltsort lag ziemlich genau in der Mitte des Grats, und gegenüber verlief einer der Ausläufer, ein langer, kahler Felsen, der in einer riesigen, einem Gesicht ähnelnden Klippe endete. Über dem Gesicht ragten zwei Vorsprünge empor, die man als Ohren ansehen konnte, und tief unter ihnen wuchs aus der Flanke des Berges ein schmaler Wulst, der wie ein liegendes Bein wirkte.
Nach weiteren hundert Metern endete der Weg, und Jakli parkte den Lastwagen unter einem großen überhängenden Felsen. Dann bedeckten sie den Wagen mit einer schmutziggrauen Plane von der Ladefläche und gingen zu Fuß auf dem schmalen Ziegenpfad weiter, der den steilen Hang kreuzte. Nach wenigen Schritten blieb Jakli stehen und warf einen Kiesel in den Schatten eines zweiten Überhangs. Der Stein prallte mit einem metallischen Geräusch ab. Am Anfang des Pfads hatte jemand einen zweiten Lastwagen versteckt.
Je näher sie der Wand kamen, desto deutlicher stellte Shan darauf ein subtiles Schattenmuster fest. Nicht alle Schatten rührten von Felsspalten her. Manche stellten Öffnungen dar, künstlich eingemeißelte Durchlässe. Efer Löwenfelsen war eine alte Festung, einer der dzong, die früher Tibet beschützt hatten. Man hatte sich die Linien der natürlich gewachsenen Formation zunutze gemacht, um den dzong mit dem Berg verschmelzen zu lassen, der sich hoch über der Changtang erhob und den Gebirgspaß beherrschte.
»Dieser Ort liegt so weit vom Herzen Tibets entfernt, daß die Regierung ihn übersehen hat«, erklärte Jakli. »Vielleicht hat die Armee auch beschlossen, daß er die ganze Mühe nicht wert sein würde. Man kann ihn nicht aus der Luft bombardieren, wie die meisten anderen dzong. Außerdem stand er jahrhundertelang leer. Aus dieser Richtung drohte keine Invasionsgefahr. Ein nennenswerter bewaffneter Widerstand war von hier aus auch nicht zu befürchten. Eigentlich besitzt der Ort nicht die geringste Bedeutung.«
Sie gingen auf das Ende des Pfads zu, während das Tageslicht immer schneller schwand. Jakli blieb stehen, um im Westen den letzten tiefroten Schimmer zu bewundern, als würde sie ein stummes Gebet in diese Richtung senden. Dann führte sie Shan in einen besonders dunklen Schatten, in dem sich der Eingang des dzong befand. Sie folgten einem Gang, der in großen Abständen von einigen trüben Butterlampen erhellt wurde, und gelangten schließlich an eine schmale Tür aus behauenen dicken Bohlen. Als Jakli die Pforte aufstieß, quietschten lautstark die eisernen Angeln.
»Die Alarmanlage«, sagte sie, neigte den Kopf und geleitete Shan hindurch. Mehr als nur eine Alarmanlage, dachte er. Die Tür war dermaßen niedrig, daß fast jeder Eintretende sich vorbeugen und so seinen Hals dem Schlag eines Verteidigers preisgeben
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