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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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mußte. Außerdem paßte immer nur eine Person gleichzeitig hindurch. Im Zeitalter der Schwerter und Pfeile hatten ein oder zwei Soldaten an so einem Eingang eine kleine Armee aufhalten können. Nach zwei Schritten gebot Jakli ihm Einhalt. Sie würden in diesem Raum abwarten.
    Die leere Kammer war ungefähr zwölf Meter breit. Am anderen Ende stand ein langer, schmuckloser Holztisch, auf dem ein Dutzend Butterlampen brannte. Rechts von ihnen wölbte sich der nackte Fels, als wäre der Raum ursprünglich eine natürliche Höhle gewesen, die man erweitert hatte. An der Wand hinter dem Tisch hingen alte Teppiche und bewegten sich sacht. Da ein Luftzug die Lampen flackern ließ, vermutete Shan, daß die Teppiche Öffnungen in der Außenwand verdeckten, wie er sie vom Pfad aus gesehen hatte.
    Langsam ging er an den hängenden Teppichen entlang. Einige waren sogar mehr als das, bemerkte er. Es waren thangkas mit Szenen aus dem Leben eines Klosters. Die Vorhänge vor den Öffnungen hatten durch den Wind sehr gelitten und sahen mittlerweile ziemlich schäbig aus. An einer Stelle hing eine schlichte schwarze Filzdecke. Plötzlich richteten sich Shans Nackenhaare auf. Jemand beobachtete ihn von der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Die Ecke war in tiefe Dunkelheit getaucht, und so nahm Shan eine der Lampen und tastete sich vor.
    Nach fünf Schritten erstarrte er, denn auf Höhe seines Kopfes blickten ihm zwei große reglose Augen entgegen. Das heitere Gesicht war wie fragend ein Stück zur Seite geneigt, und eine der Hände hielt eine Glocke. Es handelte sich um einen sitzenden Buddha, den man aus dem Felsen gemeißelt hatte und der daher mitten aus der Wand emporzuwachsen schien. Während der Kopf der ungewöhnlichen Statue beinahe vollständig frei lag, stellte der untere Teil des Körpers, wo die übergeschlagenen Beine unter dem Gewand verborgen waren, kaum mehr als ein Basrelief dar.
    Als Shan näher kam, sah er, daß die unbekannten Bildhauer den Felsen unterhalb des Buddhas zu einem Altar umgestaltet hatten, auf dem die Figur nun zu ruhen schien. Zu beiden Seiten befanden sich große Nischen, um Gaben aufzunehmen. Die Wand war dort schwarz vom Ruß der tormas, der Butterbildnisse, die an Festtagen als Opfer verbrannt wurden.
    Jakli ging an Shan vorbei und stellte eine Lampe in eine der Nischen. »Dieser Ort wurde zur Zeit des tibetischen Königreichs erbaut«, erklärte sie. »Die Soldaten waren Kriegermönche und kämpften manchmal unter dem Befehl derselben Lamas, die auch die religiöse Leitung innehatten. Wir haben eine alte Schrift gefunden, in der das Leben in Senge Drak beschrieben wird.« Während sie sprach, hob sie eine Hand zum Kopf des Buddhas und folgte mit ihren Fingern den sanften Konturen des Gesichts, ohne die Statue zu berühren. »Die Mönche waren legendäre Bogenschützen, aber da sie an die Heiligkeit des Lebens glaubten, übten sie ihre Fähigkeiten nicht wie gewöhnliche Kämpfer, die auf Vögel, Hirsche oder andere Lebewesen geschossen hätten. Statt dessen bezogen die Männer an den offenen Durchlässen Stellung, und ihre Lehrer warfen Papiervögel in den Wind, die ihnen dann als Ziele dienten.«
    »Falls alle Armeen so wären, gäbe es keine Kriege mehr«, fügte eine vertraute Stimme hinzu.
    Shan drehte sich um. Es war Lokesh, der ihn mit charakteristisch schiefem Lächeln ansah. Er zwinkerte verschmitzt, und dann trat er vor, um Shan zu umarmen.
    »Aber leider schießt nicht jede Armee nur auf Papiervögel«, sagte eine andere Gestalt und kam aus dem Schatten hervor. Jowa schien nicht ganz so erfreut darüber zu sein, Shan zu sehen.
    Lokesh runzelte die Stirn, als ärgere er sich über Jowas Einmischung.
    »Sind sie hier?« fragte Jakli barsch. »Sind sie etwa zum Feiern hergekommen, während alle anderen dort unten den Kopf hinhalten müssen?«
    Jowa sah sie verwirrt an und schien eine Frage stellen zu wollen, als noch jemand aus der Dunkelheit auftauchte. Es war Fat Mao. Jakli eilte quer durch den Raum, ließ eine Schimpfkanonade in ihrer Muttersprache auf ihn herabprasseln, hob die Hände und fuchtelte aufgeregt vor dem Gesicht des erschrockenen Uiguren herum.
    »Sui war ein Hundesohn, der für einen noch größeren Hundesohn gearbeitet hat«, sagte Fat Mao auf mandarin und näherte sich Shan und Jowa, als wolle er dort Schutz suchen. Shan musterte den Uiguren. Er wirkte erschöpft, und seine Kleidung war schmutzig und an mehreren Stellen eingerissen. Er hatte vor kurzem einen

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