Das Auge von Tibet
längeren Weg zurückgelegt. Vielleicht auf der Flucht. »Sui hat den Tod verdient. Aber ich habe ihn nicht getötet.«
»Womöglich nicht du selbst«, rief Jakli empört, »aber die anderen Maos. Ausgerechnet jetzt, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Ihr seid keine Krieger, sondern bloß feige Aasgeier. Ihr schlagt aus dem Hinterhalt zu und lauft dann weg. Sollen doch andere für eure Taten bezahlen.« Ihre Stimme erstickte vor lauter Empörung.
»Es war keiner von uns«, versicherte Fat Mao.
»Das kannst du gar nicht wissen«, wandte Jakli ein.
»Doch, ich weiß es«, sagte der Uigure. »Wenn es im Bezirk Yutian passiert, weiß ich darüber Bescheid. Sui wurde so oft wie möglich beschattet. Aber niemand von uns hat ihn ermordet. Ich weiß, was du denkst. Die Kriecher werden das gleiche vermuten.«
»Die Rettung des Roten Steins, die Suche nach Laus Mörder und dem Mörder der Kinder.« Jakli hielt inne, als hätte sie sich abrupt entschieden, der Liste keinen weiteren Punkt hinzuzufügen. »Das alles ist nun unmöglich.«
War das der Grund? überlegte Shan. Hatte jemand Sui ermordet, um die Öffentliche Sicherheit von etwas anderem abzulenken? Oder wollte jemand, der die Reaktion der Kriecher von vornherein kannte, Shan und seine Gefährten davon abhalten, die Ermittlungen im Fall Lau fortzusetzen?
Jemand anders betrat den Raum, ein kleiner schmächtiger Mann, der auf einem Brett einige Trinkschalen trug. »Jah«, sagte er auf tibetisch. Tee. Es war Bajys. Nicht der verängstigt stammelnde Bajys, sondern ein anderer oder wenigstens teilweise veränderter Bajys, denn sein Gesicht wirkte immer noch so hohl und leer wie bei Laus Höhle. Als Shan eine der Schalen von ihm entgegennahm, bemerkte er, daß die Hand des Mannes ruhig war. Aber sein Blick flackerte.
Jowa nahm ebenfalls eine Schale, setzte sich abseits von den anderen auf die Tischkante und zog ein Stück Papier aus der Tasche, um darin zu lesen, als sei er nicht an weiteren Gesprächen interessiert.
Shan spürte, daß jemand ihn am Ärmel zupfte. »Wenn Sui beobachtet wurde, müssen die Maos irgend etwas wissen«, sagte er zu Fat Mao. Er wandte den Kopf und sah, daß Lokesh neben ihm stand und ihn in den Schatten ziehen wollte.
»Die Leiche wurde von einem uigurischen Fernfahrer entdeckt, der mit einer Ladung Wolle allein nach Kashi unterwegs war«, erläuterte Fat Mao. »Sui lehnte am Straßenrand an einem Felsen.«
»Der Mörder hat sein Opfer nicht versteckt?«
»Ganz im Gegenteil. Der Fahrer hat Sui deutlich im Scheinwerferlicht gesehen und angehalten, weil er den Mann für krank oder verletzt gehalten hat. Aber der Leutnant lebte nicht mehr. Man hat ihm zwei Schüsse durchs Herz verpaßt. Ein schneller Tod.«
»Das heißt, der Körper wurde anschließend absichtlich dort plaziert.«
»Genau. In den Sand neben der Leiche hatte jemand lung ma geschrieben. Das kann unmöglich Sui gewesen sein. Er wäre wie ein Stein zu Boden gestürzt.«
»Haben die Kriecher ihn so gefunden?«
»Nicht ganz«, sagte Mao. »Der Fahrer war sich nicht sicher, was er tun sollte. Er wußte auch nicht, wer Sui war.«
»Sui war ein Kriecher. Alle kennen die Uniform.«
Fat Mao schüttelte den Kopf. »Sui trug keine Uniform.« Er schaute von Shan zu Jakli und ließ die Worte einen Moment wirken. »Aber in seinem Gürtel steckte eine Pistole. Und dann kam noch jemand die Straße entlang und hat dem Fahrer geholfen.«
»Und der kannte Sui?« fragte Shan. Er drehte sich noch einmal um. Lokesh war verschwunden.
»Er war sogar auf der Suche nach Sui. Und er hat die Worte im Sand verwischt. Ein Mao. Er wollte die Leiche wegbringen, aber ihm blieb keine Zeit, weil weitere Fahrzeuge sich näherten. Er hat es lediglich geschafft, Sui hinter ein paar Felsen zu ziehen.«
»Ein Mao ist Sui gefolgt?« fragte Shan.
Der Uigure nickte. »Einer von uns hat Sui beschattet, aber in Yutian verloren. Sui war mit Anklägerin Xu im Lager Volksruhm verabredet, also ist der Verfolger in diese Richtung gefahren.«
Fat Mao warf Jakli einen ernsten Blick zu. Vielleicht hatte Xu beschlossen, den Treffpunkt an die Straße zu verlegen, um Sui aus irgendeinem Grund zu beseitigen.
»Was für eine Waffe hatte Sui bei sich?« fragte Shan. Der Kriecher war mit der Pistole im Gürtel gestorben, als habe der Mörder ihn überrascht.
»Keine offizielle Dienstwaffe. Ein kleines Kaliber, wie bei der Übungspistole eines Sportschützen.«
»Lau und Suwan sind mit so einer Waffe ermordet
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