Das Auge von Tibet
worden.« Shan seufzte. Jakli ließ sich ermattet auf eine Bank neben dem Tisch sinken. »Was war los? Warum wurde Sui verfolgt?«
»Als der Fahrer erfuhr, um wen es sich dort handelte, wollte er nicht länger bleiben. Er ist weitergefahren. Aber zuvor hat er noch die Leiche angespuckt.«
»Danke für dieses wichtige Detail«, murmelte Shan.
Fat Mao zuckte die Achseln. »Wir haben ihn beobachtet, weil wir generell so viele Informationen wie möglich sammeln. Um die Leute warnen zu können. Um mehr zu erfahren.« Er rieb sich mit dem Handballen die Schläfe. Der Uigure hatte Kopfschmerzen, erkannte Shan. Er war nicht an die dünne Höhenluft gewöhnt.
»Das Programm zur Beseitigung der Armut«, sagte Jakli. Die Worte brachten ihr einen vorwurfsvollen Blick von Fat Mao ein, doch sie ließ sich nicht beirren. »Die Öffentliche Sicherheit ist irgendwie darin verwickelt. Sui ist neulich zu der Werkstatt gekommen, als Ko die Bestandsaufnahme durchführen ließ.«
»Sie glauben, Sui habe mit der Brigade zusammengearbeitet?« fragte Shan.
Der Uigure setzte sich an den Tisch, stützte die Ellbogen darauf und barg das Gesicht in den Händen.
»Ja, vermutlich«, sagte Jakli. »Vielleicht bloß, um eventuelle Differenzen zu unterbinden. Damit die Clans tun, was ihnen gesagt wird, und niemand sich dem Programm entzieht.«
»Sui war derjenige, der verkündet hat, die Brigade würde auch alle Pferde einsammeln«, rief Shan ihr ins Gedächtnis.
Fat Mao hob den Kopf. »Sui ist Direktor Ko gefolgt«, sagte er.
»Zum Lager Volksruhm?« fragte Shan.
»Nein, zu allen möglichen Orten. Zumindest während der letzten drei Wochen. Als hätte die Öffentliche Sicherheit in bezug auf Ko einen bestimmten Verdacht gehegt.« Er rieb sich abermals die Schläfen und streckte sich auf der Bank aus.
Shan sah sich um. Lokesh war nicht zurückgekehrt. Bajys war ebenfalls verschwunden. Als Shan in den Schatten trat, entdeckte er den Umriß eines Durchgangs. Dahinter gelangte er in einen weiteren Tunnel, der von kleinen Lampen erhellt wurde. Nach etwa zehn Metern blieb er verwirrt stehen. Er spürte etwas. Nein, eigentlich war es eher eine Vorahnung, der Vorbote einer Erkenntnis. Er stützte sich mit einer Hand an der Felswand ab und schloß für einen Moment die Augen. Dann riß er sie plötzlich wieder auf und lief los.
Nach dreißig Metern teilte der Korridor sich in zwei Gänge. An der Gabelung stand auf einem großen Holzpodest eine ungefähr neunzig Zentimeter hohe Gebetsmühle. Ohne zu zögern, bog Shan in den linken Gang ein und gelangte an eine hölzerne Tür. Sie stand weit genug offen, daß er dahinter eine quadratische Kammer von etwa zehn Metern Seitenlänge erkennen konnte, in deren Mitte ein Kreis aus Butterlampen sanftes Licht verbreitete. Es war ein angenehmer, stiller Raum, den man an Boden, Wänden und Decke vollständig mit duftendem Holz ausgekleidet hatte. Man richtete solche Kammern in Tempeln ein, um darin etwas Wertvolles zu verwahren. Shan trat ein.
In der Nähe der Lampen saß Lokesh, und neben ihm verharrte im Lotussitz ein Mann in einem Mönchsgewand. Seine Ellbogen ruhten auf den Knien, und seine gespreizten Finger stützten den gebeugten Kopf. Shan hatte Mühe, sein wild klopfendes Herz zu beruhigen. Es war Gendun.
Shan gesellte sich zu den beiden Tibetern dort bei dem Lichtkreis, saß schweigend da und atmete den Wohlgeruch des alten Holzes ein. Er nahm eine der Lampen und starrte in die Flamme, um sich zu konzentrieren und seinen Verstand für Gen dun zu reinigen. Wenn der ausgewählte Fokus rein und absolut war, konnte man darin eintauchen, so daß man vor jeglicher Ablenkung geschützt wurde. Man konnte zu diesem Zweck alles mögliche verwenden - einen Schlammklumpen, einen Blutstropfen, eine winzige Heideblüte -, solange der Gegenstand rein war.
»Ich habe einst einen Einsiedler getroffen«, sagte eine Stimme, die langsam in sein Bewußtsein drang. »Er hat behauptet, die Reinkarnation eines Wacholderbaums zu sein. Er sagte, er könne das Holz sprechen hören.« Die Stimme hallte in seinem Herzen wider und erfüllte Shan mit Wärme. »Er sagte, wir alle seien früher einmal Bäume gewesen. Ich erwiderte, das könne ich mir nicht vorstellen, denn ich würde immer noch danach streben, eine Zeder zu werden.«
Blinzelnd wandte Shan die Augen von der Flamme ab, hob den Kopf und sah in Genduns lächelndes Gesicht.
Der Lama preßte zum Gruß die Hände vor dem Herzen aneinander und streckte dann die
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