Das Auge von Tibet
des Reislagers erstreckte. Auf halbem Weg nach oben legte Jakli ihm eine Hand auf die Schulter, damit er stehenbliebe, und stieß einen lauten Pfiff aus. Dreißig Sekunden später tauchte über ihnen ein riesiger Hund auf, gefolgt von einem Mann, dessen Gesicht keine freundliche Regung erkennen ließ. Sie näherten sich dem Fremden, der ihnen mit auffälligem Stirnrunzeln zunickte, sich dann über den Hund beugte und das Tier mit einem leisen Befehl wegschickte.
Der Hirte trug ein Fernglas um den Hals, das er nun abnahm und Jakli reichte. Dann drehte er sich um und führte sie den Pfad hinauf. Als sie kurz vor der Kammlinie unter einer großen Pappel entlanggingen, murmelte der Mann ein Wort in seiner Muttersprache, das von oben mit dem gleichen Wort erwidert wurde. Shan sah hoch und entdeckte dort einen zweiten Mann, der ebenfalls ein Fernglas in der Hand hatte. Das waren keine Hirten, sondern Maos.
Als das Lager Volksruhm in Sicht kam, gab Jakli das Fernglas an Shan weiter und zog ihn in die Deckung eines großen Strauches. Bislang hätten sich keine außergewöhnlichen Vorfälle ereignet, hörte Shan den Mann zu Jakli sagen, während er das Lager absuchte. Keine weiteren Lastwagenladungen voller Häftlinge. Die Gefangenen erhielten derzeit Unterricht. Das Außengelände war leer. Bei dem Gebäude mit den besonderen Zellen schien alles ruhig zu sein.
»Da ist nichts«, wiederholte der Mann ungeduldig hinter Shans Rücken.
Aber da war doch etwas. Ein grauer Umriß, den man leicht für einen Felsen hätte halten können, bei dem Fahnenmast in der Mitte des Antreteplatzes. Shan wies darauf hin.
»Der Mann?« fragte der Mao. »Der ist schon den ganzen Tag da. Glaubst du etwa, er leidet? Der leidet nicht.«
Shan gab Jakli das Fernglas zurück. Wurde der Mann bestraft? überlegte er. Oder wollte er stundenlang in Sonne und Wind sitzen?
»Das ist niemand«, sagte der Mao. »Von hier aus kann man sowieso keine Gesichter erkennen«, fügte er hinzu und machte sich auf den Rückweg.
Aber Shan erkannte den Mann trotzdem.
Nach einigen Metern drehte der Mao sich um. »Ihr könnt sie da nicht rausholen«, rief er mürrisch. »Ausbruchsversuche sind lebensgefährlich.« Dann ging er weiter.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Jakli. »Kennen Sie ihn?«
»Sie wußten nicht, daß er tibetisch spricht, oder? Und Sie wußten auch nicht, daß er die Höhle genutzt hat«, sagte Shan.
Jakli beugte sich mit dem Fernglas vor, um den Mann besser erkennen zu können.
»Als er neulich aufgestanden ist, haben Sie da seine Körpergröße bemerkt?«
Sie ließ das Fernglas sinken, sah Shan an und atmete tief ein. »Der Wasserhüter«, rief sie erschrocken. Dann biß sie sich auf die Unterlippe und hob erneut das Fernglas. »All diese vielen Male hätte ich um einen Segen bitten können«, flüsterte sie.
Shan warf ihr einen besorgten Blick zu.
Schweigend kehrten sie zum Wagen zurück und fuhren weiter.
Über langgezogene, mit Schotter bedeckte Hänge gelangten sie immer höher in die Berge. Jaklis Stimmung wurde besser, und sie erzählte Shan von vertrauten Orten, deutete auf eine Stelle, an der ihr Clan einst sein Lager aufgeschlagen hatte, wo ihr die Rettung eines verirrten Lamms geglückt war oder wo Lau ihr eine Kolonie Pfeifhasen gezeigt hatte. Einmal hielt sie an und wies nahezu atemlos auf einen fernen Hügel, auf dem sich etwas bewegte. Eine kleine Herde Wildpferde. Sie stieg aus und rief etwas im Dialekt ihres Clans. Der Wind riß ihr die Worte von den Lippen. Ein Pferdegebet, um die Tiere vor der Brigade zu schützen, erklärte sie mit einem verlegenen Lächeln, als sie wieder einstieg.
Sie stießen auf eine weitere Straße und bogen vorsichtig darauf ein, während Jakli unaufhörlich nach anderen Fahrzeugen Ausschau hielt. Dann setzten sie ihren Aufstieg in Richtung der schneebedeckten Gipfel fort. Shan schlief immer wieder ein. Einmal wachte er auf und bemerkte, daß der Wagen am Fuß einer großen grauen Klippe stand, gegenüber einer Wiese voller Astern. Jakli kniete mit einem Strauß Blumen am Straßenrand und schaute zu den baumbestandenen Hängen empor. Dann neigte sie den Kopf und legte die Blumen an der Klippe nieder. Als sie zurückkehrte, tat Shan so, als würde er weiterhin schlafen.
Er schlief tatsächlich wieder ein und erwachte am späten Nachmittag. Sie fuhren unter einem tiefroten Himmel durch eine fremde Gebirgslandschaft. Shan betrachtete die hohen geheimnisvollen Täler in den Bergflanken und die
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