Das Auge von Tibet
Sie schien so schnell wie möglich aufbrechen zu wollen.
Marco sah Shan ernst an. »Das hängt davon ab, wie man Gewinnen definiert«, sagte er schließlich, drehte sich um und vergrub sein Gesicht in dem dichten Fell auf Sophies Stirn, als würde er mit dem Tier Zwiesprache halten. Dann hob er den Kopf. »Hören Sie, Genosse Inspektor«, sagte er. »Ich weiß von Jakli, daß Sie keinerlei Papiere besitzen. Lassen Sie sich von ihr in ein Versteck bringen. Warten Sie mindestens ein oder zwei Wochen ab. Gehen Sie zum Clan des Roten Steins. Zählen Sie die Schafe.«
Shan rührte sich nicht und ließ Marco nicht aus den Augen. »Der Rote Stein hat auch ohne mich genügend Sorgen.«
Der eluosi runzelte die Stirn und sah Jakli an. Dann strich er sich mit den Fingern über den Bart und blickte zu Osman, als würde er an dessen Warnung vor den Kohlengruben denken. »Du mußt dich verstecken, Mädchen. Komm mit mir. Laß dich jetzt nicht erwischen, nicht so kurz vor dem Fest.«
Jakli lächelte, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Marco einen Kuß auf die Wange. »Ich bleibe bei Shan«, verkündete sie munter. »Ich habe Lau ein Versprechen gegeben.«
Aber Sie haben auch Nikki etwas versprochen, hätte Shan beinahe gesagt, doch dann sah er Jakli in die Augen und erkannte, daß sie nicht bloß trotzig war. Sie hatte nicht nur Lau ein Versprechen gegeben, sondern sich selbst etwas geschworen. Bevor Lau keine Gerechtigkeit widerfahren war, würde Jakli nicht heiraten.
Marco wich einen Schritt zurück und fuhr mit der Hand über die Stelle auf seiner Wange, die Jakli geküßt hatte. Dem rauhen eluosi schienen die Worte zu fehlen. »Verdammt, dann bring ihn eben nach Senge Drak«, sagte er zu Jakli. »Shan ist deren Problem, nicht unseres.«
»Senge Drak?« fragte Shan.
»Im Kunlun«, sagte Marco und warf Jakli einen bedeutungsvollen Blick zu. »Wer auch immer Sui ermordet haben mag, könnte dort sein.« Er klang irgendwie seltsam, als sei ihm der Gedanke eben erst gekommen. Dann wandte er sich wieder an Shan. »Sie wollen das Raubtier aufhalten? Dann bringen Sie den Kriechern Suis Mörder.«
Das Wiehern eines Pferdes unterbrach ihn. Sie drehten sich um und sahen, daß die verbleibenden Bewohner der Ansiedlung in einer Reihe den Pfad hinauf ritten, den Shan und Jakli am Vortag eingeschlagen hatten. Die vordersten Reiter hatten angehalten und winkten.
Sophie kniete sich in den Sand, um Marco aufsteigen zu lassen, als würde sie die ferne Geste begreifen. Sobald er im Sattel saß, sprang sie auf und trabte davon. Der eluosi lachte laut auf. »Möge der Herrscher über alles Lebende Sie beschützen, Chinese«, rief er. »Ich kann es nicht.« Wenige Sekunden später hatte er die Spitze der Kolonne erreicht.
Während Shan den Reitern und ihren Packtieren hinterherschaute, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. Der Anblick glich einem Bild aus der Vergangenheit, aus der Epoche der Seidenstraße und der Zeit eines Karatschuks, das längst nicht mehr existierte. Eine Karawane von Abenteurern zog Wagnissen und unbekannten Gefahren entgegen.
Als sie wieder im Lastwagen saßen und die Ruinenstadt verließen, schlug Jakli einen südlichen Kurs ein und hielt direkt auf die hohen Gipfel zu, hinter denen Tibet lag. Die Grenze zum Jenseits. Shan musterte die öde Landschaft und schlief immer wieder kurz ein, während der Lastwagen dem Verlauf eines anderen ausgetrockneten Flusses folgte. Nach einer Stunde hielt Jakli in einem Weiden- und Pappelgehölz an der Fernstraße nach Kashi und bat Shan, auszusteigen und sich davon zu überzeugen, daß kein anderes Fahrzeug in Sichtweite war. Er winkte Jakli auf die andere Seite. Dann fuhren sie knappe zwei Kilometer durch ein weiteres Flußbett, bis Jakli plötzlich Gas gab und, über die Böschung schlingernd, auf einen Pfad einbog, der gerade breit genug für den Lastwagen war.
Shan studierte die Landkarte. »Das Lager Volksruhm liegt ganz in der Nähe«, stellte er fest.
»Ein zweiter Besuch wäre zu riskant«, sagte Jakli. Sie schaute ihn an und schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn dort Kriecher sind. Und nicht nach dem Gespräch zwischen Xu und Ihnen.«
»Oberhalb des Lagers waren Schafe auf den Hügeln«, sagte er und erklärte ihr seine Absicht.
Jakli seufzte und hielt an, um selbst einen Blick auf die Karte zu werfen. Eine halbe Stunde später hatten sie den Wagen im Schutz einiger Bäume abgestellt und kletterten einen niedrigen Bergkamm hinauf, der sich entlang der Ostflanke
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