Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
noch weiter herab, stieß ihre Nase dann in Shans ausgestreckte Hände und leckte sie ab.
    Marco sah sie unschlüssig an. »Sophie! Du treulose Seele!« rief er und kraulte das Kamel zwischen den Ohren. »Normalerweise macht sie so etwas nicht«, fügte er verwirrt hinzu. »Nur bei engen Freunden. Bei mir und Nikki. Und bei Jakli.«
    »Sie ist hübsch.«
    Marco legte dem Kamel einen Arm um den Hals. »Sie ist wunderschön. Wie eine schöne Frau. Der Emir von Buchara«, sagte er und benannte damit den früheren Herrscher einer der uralten befestigten Städte Zentralasiens, »hatte einen Bestand von zweihundert Rennkamelen, bis die Russen seine Stadt belagert haben. Drei Jahre lang konnten er und seine Leute standhalten und mußten hilflos mit ansehen, wie die Feinde eine verdammte Eisenbahnstrecke bis direkt an die Stadtmauer bauten. Die meisten der Kamele wurden unterdessen geschlachtet, um die Truppen des Emirs zu ernähren. Als per Bahn immer mehr russische Soldatentransporte eintrafen, ließ der Emir sich von den Mistkerlen freies Geleit für die letzten zwanzig Kamele und deren Pfleger zusichern. Erst als die Tiere in Sicherheit waren, hat er den Invasoren die Stadttore geöffnet. Sophie stammt von einem dieser Überlebenden ab.«
    Vorsichtig legte Shan dem Kamel eine Hand auf den Hals.
    Sophie erwiderte den Druck, als fordere sie ihn auf, sie zu streicheln. Shan tat ihr den Gefallen. »Ich dachte, Karatschuk sei sicher.«
    Osman schleppte zwei große Packkörbe heraus, die mit kleineren, in Stoff gewickelten Kästen und Bündeln gefüllt waren. »So sicher ist es sonst nirgendwo«, bestätigte Marco. »Außer bei mir zu Hause. Und deshalb wollen wir auch kein Risiko eingehen. Normalerweise wagen die Kriecher sich nie so weit in die Wüste. Aber wenn ein dermaßen schwerwiegender Zwischenfall eintritt, rufen sie Helikopter zur Unterstützung. Falls die uns hier unten entdecken würden.« Er zuckte die Achseln und sah Osman an. »Dann gäbe es keine wochenlangen Schachpartien mehr, nicht wahr, alter Freund?« Er trat zu einem kleineren Kamel, das hinter Sophie stand, und half Osman, die Körbe am Packgeschirr des Tiers zu verzurren.
    Jakli kam um die Ecke. Sie sah erschöpft und gereizt aus und hatte Shans Leinentasche in der Hand.
    »Sie müssen nach Hause zurückkehren, Chinese«, sagte Marco.
    »Ich habe kein Zuhause.«
    »Na gut, dann eben zurück nach Tibet.«
    »Ich bin noch nicht fertig.«
    »Doch, das sind Sie. Die Kriecher werden den Rest übernehmen.« Marco schien die Entschlossenheit in Shans Blick richtig zu deuten. »Das Hornissennest hat sich geöffnet. Es wäre nicht ratsam, einen weiteren Stock hineinzustoßen.«
    »Ich kann nur dann aufhören, wenn ich von denen, die mich geschickt haben, darum gebeten werde«, sagte Shan leise.
    Marco schüttelte den Kopf. »Die kennen dieses Land nicht. Und Sie kennen es auch nicht.« Er schaute an Sophies Hals vorbei hinaus in die Wüste. »So ist es schon immer gewesen. Das Raubtier kommt so sicher wie die Gezeiten des Meeres. Die Menschen bauen sich ein Leben auf, rund um eine Herde, in einer Oase oder in einem kleinen Gebirgstal. Und alle paar Jahre wird ihnen alles wieder genommen. Sie wissen es. Sie haben gelernt, damit zu rechnen. Vor langer Zeit, als Karatschuk noch fruchtbar war, brach manchmal eine Heuschreckenplage aus und vernichtete in weitem Umkreis alles Grüne. Oder ein gewaltiger Sandsturm zog auf, auch als die Wüste noch nicht alles auf ewig verschluckt hatte, ein karaburan, der tagelang wüten und alles zerstören konnte, was weicher als Stein war. Mitunter ist es auch eine Armee. Die Mongolen sind hier eingefallen. Die Chinesen. Die Perser. Angeblich sogar einmal die Römer. Wenn man jede Geschichte für bare Münze nimmt, ist sogar eine Affenarmee auf dem Rücken von Tigern hier durchgezogen.« Marco warf noch einen Blick auf die Verschnürung der Ladung, zog die Knoten ein letztes Mal fest und wickelte Sophies Zügel vom Hals des Tiers.
    »Ob nun Affen auf Tigern oder Kriecher auf Panzern, das bleibt sich gleich. Um zu überleben und Menschen, die dir etwas bedeuten, zu schützen, verschwindest du. Du wirst unsichtbar. Ziehst dich unter die Erde zurück. Oder ins Hochgebirge. Solange du nur nicht dem Raubtier in die Quere kommst.«
    Shan kannte dieses Raubtier nur zu gut. Er hatte mehr als drei Jahre im Magen der Bestie zubringen müssen. »Das Raubtier muß nicht immer gewinnen«, sagte er eigensinnig. Jakli stand inzwischen neben ihm.

Weitere Kostenlose Bücher