Das Auge von Tibet
Unterarme aus, ohne die Ellbogen von den Knien zu heben. Es war seine Art, Shan zu umarmen.
»Rinpoche«, sagte Shan langsam. »Wir sind sehr weit von deinem Berg in Lhadrung entfernt.«
»Solange ich einen Berg habe, in dem ich sitzen kann, bin ich zu Hause«, erwiderte Gendun. Seine Stimme klang wie Sand, der auf einen glatten Felsen rieselte.
Shan lächelte. Gendun hatte schon so viele Jahre in seiner steinernen Einsiedelei meditiert, daß alle, die ihn kannten, davon überzeugt waren, er könne die lebenspendende Kraft der Berge spüren.
»Ist es dir gut ergangen?« fragte er Shan.
»Ich habe Verwirrendes erlebt.«
Gendun lächelte. »Ich auch, mein Freund.« Dann verstummte er und schaute weiterhin lächelnd von Shan zu Lokesh.
»Wir dachten, die fremden Männer hätten dich in jener Nacht ergriffen«, sagte Shan.
»Die Berge hier«, sagte Gendun und klang dabei verwundert. »Sie haben eine andere Stimme. Ist dir das auch aufgefallen? Meinen Blicken sind sie fremd, aber mein Herz kennt sie, obwohl es schon so viele Jahre her ist.«
Shan konnte zur Antwort wiederum nur lächeln. »Bist du die ganze Zeit hier gewesen, Rinpoche?« fragte er dann.
»Er ist vom Wagen gestiegen, als die Brigade uns angehalten hat«, sagte jemand hinter ihm. Shan drehte sich um und sah Jowa im Eingang stehen.
»Ich bin zwei Tage später hier eingetroffen«, sagte eine andere Stimme. Sie gehörte dem jungen purba , der ihren Lastwagen nach dem Zusammentreffen mit den Kasachen übernommen hatte. Der Tibeter schob sich an Jowa vorbei in den Raum und blickte mit großen Augen auf Gendun. »Er saß ganz allein einfach hier und rührte sich nicht vom Fleck.«
Jowa blieb an der Tür, als wolle er sich dem Lama nur ungern nähern.
»Wie weit ist es von hier bis zu der Stelle, an der wir angehalten haben?« fragte Shan.
»Fünfundzwanzig oder dreißig Kilometer.« Der junge Tibeter schüttelte den Kopf. »Aber Senge Drak ist ein Geheimnis.«
Sein Tonfall klang irgendwie fragend, als würde er Shan um eine Erklärung bitten. »Er ist zuvor noch nie hier gewesen. Und von der Stelle aus, an der er die Straße verlassen hat, führt kein Pfad hierher.«
Gendun ließ durch nichts erkennen, ob er dem Gespräch gefolgt war. Er hatte es Shan bereits erklärt. Die Berge hatten eigene Stimmen.
Shan sah Jowa an, nicht den jungen Tibeter. Jowa wirkte nicht nur müde, sondern unangenehm berührt, als würde Gendun, einer der heiligen Männer, für die er kämpfte, den purba in gewisser Weise einschüchtern.
»Wir haben ihm von dem zweiten Jungen erzählt«, sagte Lokesh mit plötzlich ernster Stimme.
Was habt ihr ihm erzählt? wollte Shan am liebsten fragen. Wie würde Lokesh den Mord an Suwan wohl beschrieben haben? Eine weitere junge Seele hat alles Leid hinter sich gelassen. Vielleicht so.
Aber dann meldete Gendun sich zu Wort. »Bist du weit herumgekommen?« fragte er Shan.
So fühlt es sich zumindest an, hätte Shan beinahe gesagt und mußte an das Grab beim Roten Stein denken, an Laus Höhle, das Reislager und Karatschuk. Es fühlt sich so an, als hätte ich in den letzten vier Tagen eine Jahresreise zurückgelegt. »Ich habe Tante Lau getroffen«, sagte er statt dessen.
»Magst du sie bislang?« fragte Gendun mit funkelndem Blick.
»Ich glaube, sie hat jede Welt geehrt, in der sie gelebt hat.«
Gendun nickte, schloß dabei langsam die Lider und öffnete sie wieder.
»Und ich habe einen alten Wasserhüter kennengelernt.«
Gendun nickte erneut. Seine Augenbraue zuckte kaum merklich. Shan begriff die unausgesprochene Frage. »Er ist noch in diesem Leben«, sagte er. »Zwar im Gefängnis, aber er leidet nicht.« Sein Blick wanderte von Gendun zu der nächstgelegenen Lampe. »Ich werde für seine Freilassung sorgen.«
Manche Dinge sind nicht wirklich, bevor sie nicht laut ausgesprochen werden. Gendun sah ihn an, aber nicht so durchdringend, wie Shan sich selbst betrachtete. Die Worte, wenngleich unvermutet und unbeabsichtigt, hallten wie eine Glocke in ihm wider. Shan benötigte nur einen kurzen Moment, um zu erkennen, was er unbewußt schon längst realisiert hatte. Aus all den vielen Begegnungen und Ereignissen, die ihm seit seiner Ankunft in Xinjiang widerfahren waren, hatte sich nur eine einzige Gewißheit herauskristallisiert: Der Wasserhüter, der alte Lama, mit dem er kaum mehr als zwei Minuten zugebracht hatte, mußte aus der Haft befreit werden. Und Shan war der einzige, der dies bewerkstelligen konnte.
Die Glocke in
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