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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Mensch in der Kette der Existenz eine sonderlich große Bedeutung besitzen würde. Er sagte, daß Menschen kommen und gehen, ständig ihre Gesichter wechseln und ihr ganzer Daseinszweck dann besteht, die Tugend am Leben zu erhalten und ihr als Gefäß zu dienen. Er sagte, wenn man genug Leben auf diese Weise hinter sich gebracht hätte, würde man selbst zur Tugend werden, und erst dann erhielte man die Gelegenheit zur wahren Erleuchtung.«
    Jakli, Shan und Fat Mao verharrten stumm und überdachten diese Worte. In einem Punkt hatte Lokesh mit Sicherheit recht, dachte Shan. Die Menschen wechselten ständig ihre Gesichter. In gewisser Weise schien im Bezirk Yutian ein Leben sogar noch weniger wert zu sein als im Gulag. Jakli nahm das Papier und las es. Dann schob sie es mit großen, aufgeregt blickenden Augen zu Shan herüber. Er überflog es hastig. Es stimmte. Jemand hatte ein neues Leben für ihn in die Wege geleitet. Er sollte abermals eine Reinkarnation erfahren. In England gab es eine Gemeinschaft chinesischer Exulanten, die ihn gern bei sich aufnehmen würde. Bis er sich auf die neuen Umstände eingerichtet hatte, sollte er bei einem Professor für chinesische Geschichte in Cambridge wohnen. Acht Tage. Um den vereinbarten Treffpunkt an der nepalesischen Grenze zu erreichen, würde er selbst unter größten Anstrengungen mindestens sechs Tage benötigen.
    Aus dem Korridor drang ein leises rumpelndes Geräusch an seine Ohren. Shan erkannte es sofort. Die Gebetsmühle.
    »Bajys«, erklärte Lokesh. »Am Abend unserer Ankunft war er noch immer sehr durcheinander und konnte sich vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten. Aber dann sah er die Mühle und fing an, sie zu drehen. Zuerst hat er geweint, dann gelacht und danach die ganze Nacht nicht mehr von der Mühle abgelassen.« Der alte Tibeter erzählte davon mit großen, leuchtenden Augen, als würde er ein Wunder beschreiben.
    Wortlos lauschten sie dem Geräusch noch einige Minuten lang. Vielleicht würde alles doch noch gut werden, wenn Bajys nur immer weiter die Gebetsmühle drehte. Manche der alten Lamas hätten vielleicht gesagt, Shan habe seine Aufgabe erfolgreich bewältigt, denn immerhin sei es ihm gelungen, jemanden zu finden, der die Mühle nach Jahrhunderten der Stille wieder zum Leben erweckte.
    Schließlich stand Lokesh auf. »Ich muß Rinpoches Decken für den Lastwagen bereitlegen«, sagte er und verschwand durch den hinteren Ausgang.
    Shan fand Gendun in der Kammer aus duftendem Holz.
    »Es ist richtig, daß du mit uns gehst«, sagte der Lama. »Dies alles war ein Fehler. Wir haben es falsch verstanden. Gemeinsam kehren wir nach Lhadrung zurück. Wir können vom Wagen aus den Mond betrachten, genau wie zuvor, und dann wirst du in dein neues Leben aufbrechen.«
    »Ich habe hier doch gerade erst begonnen«, sagte Shan ausdruckslos. Es geschah alles viel zu schnell.
    Der Lama schüttelte den Kopf. »Auch ohne den Brief, den Jowa dir gegeben hat, hättest du wieder nach Süden gehen sollen. Das Ding, das unter der Oberfläche lauert, ist wie eine Wolke, die sich vor einen wunderschönen Mond schiebt. Ich habe nur ein Wort dafür, nämlich Tod. Aber dieses Wort ist zu einfach. Falls du verlorengingest, Shan, ohne daß deine Seele sich im Gleichgewicht befindet.« Er sah kurz auf seine verschränkten Hände und blickte dann mit großen Augen auf. »Es wäre schlimmer als der Verlust von Lau.«
    »Weil sie darauf vorbereitet war?« fragte Shan.
    Gendun nickte.
    »Nicht nur vorbereitet«, fügte Shan hinzu. »Lau hat damit gerechnet, für ihre Geheimnisse zu sterben.« Gendun wandte ihm das Gesicht zu, als wolle er ihn berichtigen. Shan tauschte einen langen stummen Blick mit dem Lama aus. »Genaugenommen nicht für ihre Geheimnisse«, sagte Shan, »sondern für ihren Glauben. Sie war Tibeterin und zugleich mehr als das. Ich glaube, sie hatte eine religiöse Ausbildung. Ich muß es wissen, Rinpoche.«
    »Anscheinend weißt du es bereits, mein Sohn.«
    Shan nickte langsam. »Sie war eine ani , eine tibetische Nonne.«
    Hinter sich hörte er ein leises Geräusch, eine Art zustimmendes Murmeln. Lokesh war dort und trat nun vor, um sich zu ihnen zu setzen.
    Gendun lächelte traurig. »Sie war früher eine Nonne, doch ihr Kloster wurde zerstört.«
    »Ich habe viele Mönche kennengelernt, deren gompas den chinesischen Bombardierungen zum Opfer gefallen sind«, sagte Shan. »Einige sagten, ohne mein Kloster bin ich kein Mönch mehr. Andere sagten, ein Mönch zu

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