Das Auge von Tibet
seinem Innern ertönte ein weiteres Mal und wurde immer lauter. Nein, das war keine Glocke, bemerkte er, sondern der zarte Klang der tsingha, jener kleinen runden Messingzimbeln, die in tibetischen Tempeln benutzt wurden.
Bajys erschien an der Tür und lächelte schüchtern, während er noch zweimal die tsingha erklingen ließ, als bereite ihm dies besondere Freude. »Es gibt Essen«, verkündete er und ging dann wieder durch den Tunnel zurück.
Sie folgten dem Klang der Zimbeln durch den Gang zu einer weiteren großen Kammer, die ebenfalls in den Felsen geschlagen war und fast die Ausmaße der Eingangshalle besaß. Auch hier öffneten sich mehrere Durchlässe dem freien Himmel. Sie befanden sich nun auf der gegenüberliegenden Seite der Felswand und damit auf der anderen Seite des Löwenkopfes, erkannte Shan. Der Raum wurde durch mehrere Kerosin- und Butterlampen hell erleuchtet, und neben einem massiven Holztisch brannten große Fladen Yakdung in einer Kohlenpfanne. Fat Mao und Jakli saßen bereits dort, außerdem ein weiterer Tibeter, ein großer Mann mit auffällig vernarbtem Gesicht, der Jowa und den purba mit einem vertrauten Nicken grüßte. Shan nahm erneut Fat Mao in Augenschein. Der Uigure hatte an jenem Tag eine große Strecke zurückgelegt, vermutlich seit der Nachricht von Suis Tod. Doch zweifellos gab es andere, leichter erreichbare Verstecke. Er war so schnell wie möglich nach Senge Drak geeilt, um die purbas aufzusuchen.
Bajys wartete, bis Gendun an der Mitte des Tisches Platz genommen hatte, und holte dann einen Topf Gerstenbrei vom Feuer. Niemand stellte die Anwesenden einander vor.
Während sie aßen, sprachen die drei purbas und Fat Mao leise über Suis Tod, und Shan erklärte Gendun, was geschehen war.
»Es tut mir leid, daß ein Mann der Regierung sterben mußte. Laßt uns das Beste für seine Seele hoffen«, sagte der Lama ruhig.
Fat Mao zuckte bei diesen Worten übertrieben deutlich zusammen. Er schüttelte den Kopf und sah dabei die purbas an, als wolle er seine Enttäuschung über Genduns Anwesenheit zum Ausdruck bringen. »Vor allem sollten wir das Beste für all jene hoffen, die nun leiden müssen. Die Unschuldigen. Die Familien. Die alten Leute. Hoffentlich verstecken sie sich gut. Hoffentlich stillt das Ungeheuer schnell seine Gier und zieht dann weiter.«
»Der Schmerz wird kommen«, stimmte Jowa ihm zu. »Und deshalb werden wir nach Hause zurückkehren. Wenn der Schakal kommt, um die Schildkröte zu fressen, muß die Schildkröte sich in ihrem Panzer verkriechen. Wir müssen uns schützen. Wir müssen Rinpoche schützen.«
Der Lama neigte den Kopf in seine Richtung. »Ich verstehe nicht, was du sagen willst. Schützen?«
»Wir können mehr Gutes bewirken, wenn wir am Leben und in Freiheit bleiben, also in Lhadrung«, sagte Jowa. »Die Gefahr wird vorübergehen. Falls du zurückkehren möchtest, sobald es hier wieder sicher ist, werde ich dich herbringen, das verspreche ich. In ein oder zwei Monaten.«
Jakli schob ihre Schüssel in die Mitte der Tischplatte. »Jemand aus den Reihen der purbas oder Maos weiß, was diesem Kriecher Sui zugestoßen ist«, behauptete sie mit schneidender Stimme. »Nur wenige würden es wagen, einen solchen Mann anzutasten. Die Leute wechseln die Straßenseite, wenn sie jemanden wie ihn kommen sehen. Männer wie Sui sind wie die Drachen, die das Land in früherer Zeit heimgesucht und wahllos Schrecken verbreitet haben. Niemand nähert sich freiwillig einem Drachen. Damals waren es nur besondere, von Priestern geweihte Soldaten, die sich gegen die Bestien behauptet haben.« Sie schaute kurz zu Shan. »Kriegermönche. Nur sie haben gegen die Drachen gekämpft. Und wenn durch den Tod eines Ungeheuers ein ganzes Nest anderer Drachen aufgescheucht wurde, stellten sie sich trotzdem schützend vor das Volk.«
Fat Mao grinste höhnisch. »Und wer ist dumm genug, sich diesen Drachen in den Weg zu stellen? Sie kommen aus Peking. Schlag einen Kopf ab, und zwei neue wachsen nach.«
»Es gibt keine magische Waffe«, sagte Shan in die folgende Stille hinein. »Es gibt nur die Wahrheit. Wer auch immer Sui ermordet hat, muß die Verantwortung dafür übernehmen.«
»Auch wenn das bedeuten würde, von den Drachen gefressen zu werden?« wandte Fat Mao ein.
»Ja, falls dies notwendig wäre, um die Unschuldigen zu beschützen.«
Jowa verzog mürrisch das Gesicht, stand auf und bedeutete den anderen beiden purbas , sich ihm anzuschließen. »Wir gehen. Es ist
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