Das Auge von Tibet
meine Aufgabe, für unsere Sicherheit zu sorgen. Und das bedeutet, daß wir auch alle nach Lhadrung zurückkehren. Wir werden unser Leben nicht für den Kampf eines anderen riskieren. Ich kämpfe für Tibet und die Tibeter.«
Gendun sah Jowa an. »Du bist nur durch den Zufall der Geburt in diesem Leben als Tibeter auf die Welt gekommen«, sagte er unschlüssig, als hätten die Worte des purba , ihn verwirrt. »In deinem nächsten Leben wirst du vielleicht Chinese sein. In deinem letzten warst du vielleicht Kasache.«
»Vorerst genügt es, sich nur um das jetzige Leben zu kümmern«, erwiderte Jowa scharf, doch noch während ihm die Worte über die Lippen kamen, war ihm die Reue deutlich anzusehen, als hätte er nur für einen Moment vergessen, mit wem er sprach. »Rinpoche«, fügte er leise und unbeholfen hinzu. Seine Hand legte sich auf den Dolch an seinem Gürtel, nicht etwa bedrohlich, sondern verschämt, als wolle er die Waffe verstecken.
Gendun runzelte die Stirn. Abermals senkte sich Schweigen über den Raum. Der Lama stand auf und schenkte allen Anwesenden Tee ein. Dann ging er zu Jowa, der noch immer regungslos verharrte, hob langsam die Hand des purba und legte sie sich auf das eigene Herz. Shan hatte so etwas zuvor schon bei strenggläubigen Buddhisten beobachtet. Auf diese Weise vermittelten manche Lamas ihren Schülern die Wahrheit.
»Wir ringen weder um Tibet noch um Xinjiang oder irgendwelche anderen Linien auf einer Landkarte. Wir ringen auch nicht um Tibeter oder Kasachen. Wir ringen um diejenigen, die den inneren Gott lieben oder immerhin lernen können, dies zu tun.« Gendun ließ die Hand los und sah in Jowas entschlossen blickende Augen, dann in Shans und Jaklis Gesicht. Er ging quer durch den Raum, stellte sich neben eine der Öffnungen, deren Vorhang man zur Seite gebunden hatte, und sah in den weiten Himmel hinaus, während der Wind mit seiner Robe spielte.
»Falls ich einen Mann wie Sui getötet hätte«, sagte Jowa mit flehentlichem Unterton zu Genduns Rücken, »würde ich mich nicht verstecken, sondern ihnen voller Stolz meinen Kopf ausliefern. Aber ich war es nicht, also werde ich auch nicht meinen Kopf riskieren.« Er sah zu Boden. Ein Ausdruck der Verzweiflung huschte über sein Gesicht, doch dann verhärtete sein Blick sich wieder. »Wir müssen nach Lhadrung zurückkehren. Es gilt, andere Kämpfe zu wagen. Kämpfe, bei denen für uns wenigstens die Aussicht auf Erfolg besteht.« Er schaute zu Shan, dann wieder zu Gendun und zog schließlich zögernd den Zettel aus der Tasche, den er vorhin gelesen hatte.
»Und du«, sagte er zu Shan mit einer Miene, in der sich Unmut und Stolz zu mischen schienen, »du bist gerettet. Du hast eine Verabredung an der nepalesischen Grenze.« Er seufzte laut und hob das Blatt. »Ein Inspektionsteam der UN hat die Erlaubnis zum Besuch einiger gompas südlich von Lhasa erhalten. Wir haben eine Möglichkeit, dich bei der Abreise der Leute mit nach draußen zu schmuggeln, und von da an werden sie sich um dich kümmern.« Er entfaltete das Stück Papier und streckte es Shan entgegen.
»Du hast gewonnen«, fuhr Jowa fort, und seine Stimme war nicht frei von Verbitterung. »Eine Chance von eins zu einer Million. Aber uns bleiben nur acht Tage, um dich hinzubringen. Die Zeit reicht kaum aus.« Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, von den Gesichtern der Maos zu Jakli und dann wieder zurück zu Shan. »Es besteht für dich also kein Grund mehr, sich Gedanken um die Angelegenheiten anderer Leute zu machen.«
Shan musterte seine Gefährten. Jakli strahlte ihn freudig an. Lokesh nickte. »Das ist alles, was du brauchst«, sagte der alte Tibeter. Gendun lächelte wortlos.
»Unser Lastwagen steht unten am Pfad«, erklärte Jowa. »Auf der Ladefläche sind Fässer und Decken, genau wie zuvor. Alle kommen mit, einschließlich Bajys. Bei Mondaufgang gehen wir zum Laster und schlafen heute nacht dort, um vor Tagesanbruch abfahren zu können.« Er trank seinen Tee aus und sah Shan an, während er den Zettel auf den Tisch legte. »Falls wir unterwegs irgendwelche Drachen sehen, werden wir dich auch ganz bestimmt aufwecken«, fügte er spöttisch hinzu. Seine Freunde fielen in sein Gelächter ein und verließen mit ihm den Raum.
Gendun ging langsam in den dunklen Korridor hinaus, kurz darauf gefolgt von Bajys. Shan goß Jakli und Lokesh Tee nach.
»Ich hatte einmal einen Lehrer«, sagte Lokesh nach einer Weile. »Er glaubte nicht, daß die Inkarnation als
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