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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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einen Stuhl von der Seite des Tisches heran und nahm wieder Platz, so daß er dem Offizier der Kriecher entgegenblickte, als gehöre er zu Xu. Die Anklägerin schien keine Notiz davon zu nehmen. Auf diese Weise befand Shan sich nicht länger in der Schußlinie der beiden und konnte den wütenden Fremden genau in Augenschein nehmen.
    Sein Haar war kurz geschoren und grau meliert, genau wie Shans. Sein breites flaches Gesicht verriet die Abstammung aus der südöstlichen Küstenregion, einer Gegend, die für ihre Fischer und Piraten bekannt war und auch für die Schwierigkeit, zwischen den beiden Gruppen zu unterscheiden. Da die muskulöse Brust des Mannes sich aufgeregt hob und senkte, konnte Shan auf der linken Seite der Uniform eine Beule unterhalb der Achselhöhle erkennen. Eine Pistole in einem Schulterholster.
    »Sie müssen schon etwas genauer werden, Major Bao«, sagte Xu frostig.
    Major Bao. Das war also der Offizier der Kriecher, der sich alle Berichte über Amerikaner zuschicken ließ und dessen Name im Lager Volksruhm gefallen war. Der Vorgesetzte von Leutnant Sui. Shan mußte daran denken, was Fat Mao gesagt hatte. Wenn es in diesem Bezirk zwei Leute gab, von denen man sich fernhalten sollte, so waren dies Anklägerin Xu und Major Bao.
    »Genauer? Zum Teufel noch mal!«
    »Major, Sie sind überreizt.« Xu schien seine Wutausbrüche gewohnt zu sein. »Setzen Sie sich.«
    Shan musterte die beiden verwirrt. Sie hätten sich inzwischen längst auf ihn stürzen müssen, um ihn auseinanderzunehmen und häppchenweise zu verschlingen. Aber Xu und Bao schienen an einer Zusammenarbeit wenig interessiert zu sein. Andererseits hatte Leutnant Sui, der Bao unterstellt gewesen war, Xu zu der Werkstatt begleitet. Und Bao Kangmei hatte Xus Memo über Lau in Kopie erhalten. Shan sah erneut zu dem Kriecher. Seine Hände waren wie Kohlköpfe, seine Augen wie schmutziges Eis. Bao Kangmei. Bekämpfe Amerika Bao. Zur Zeit der Auseinandersetzung mit den Amerikanern in Korea war dies ein beliebter Name gewesen.
    Bao stieß ein Knurren aus und ließ sich auf den Stuhl in der Mitte fallen, auf dem soeben noch Shan gesessen hatte. »Ihre verfluchten Ermittler verursachen zuviel Wirbel«, sagte er unterkühlt. »Jedermann geht in Deckung. Die Karawanen werden aufhören. Falls Sie meine Operation zunichte machen, werde ich Sie zunichte machen.«
    Shan sah den Kriecher an. Bao wollte die Karawanen nicht unterbinden, sondern beibehalten. Shan dachte an die Schwarzmarktgüter im Lager Volksruhm, in dem Schuppen mit dem Wachposten der Kriecher. In dem Schuppen mit dem toten Amerikaner. War das schon alles? War Bao bloß irgendein Schieber? Vielleicht hatte der Amerikaner lediglich Pech gehabt, als er auf dem Schwarzmarkt von Xinjiang Teppiche kaufen oder sogar gegen Unterhaltungselektronik eintauschen wollte.
    Xu seufzte, als könne sie Bao gut verstehen, aber ihre Miene verriet keinerlei Wärme. »Mein Team hat noch nie so kurz vor einem Durchbruch gestanden. Wir mußten jahrelang auf eine Gelegenheit wie das Armutsprogramm warten. Ich werde meine Leute nicht von einem konkreten Fall abziehen, damit Sie weiter Ihren Phantomen nachjagen können.«
    »Es geht nicht um Phantome, Genossin Anklägerin, sondern um Feinde des Staates. Feinde von Peking.«
    »Das ist Ihr rettender Strohhalm, nicht wahr, Major?« Bei diesen Worten von Xu blickte Shan überrascht auf. Er hatte noch nie gehört, daß jemand in so einem Tonfall mit einem Kriecher sprach. »Sie sind der einzige, der ständig Peking erwähnt. Aber ich bin diejenige, die Verbrecher fängt. Peking weiß das.«
    Bao starrte sie wütend an.
    Nachdem sie ihm auf diese Weise einen Tiefschlag versetzt hatte, schien Xus Laune sich etwas zu bessern. »Ein paar unbedeutende Befragungen in den Bergen werden doch wohl kaum eine wichtige Operation der Öffentlichen Sicherheit gefährden können, Genosse Major.«
    Aber Bao schien sie nicht gehört zu haben. Sein stiernackiger Kopf drehte sich zur Seite und sah zu einem großen Tisch, größer noch als jener, der als Xus Schreibtisch fungierte. Der Tisch stand direkt vor der Wand und war auffallend überdimensioniert, als wolle man jederzeit die Möglichkeit haben, ein Bankett abzuhalten oder eine Leiche zu sezieren, ganz nach Xus Belieben.
    Mitten auf diesem Tisch stand ein einzelner Karton, auf den in großen schwarzen Buchstaben ein Name geschrieben war. Lau.
    Bao warf Xu einen stummen bedeutungsvollen Blick zu, stand auf und ging zu dem Tisch. Xu

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