Das Auge von Tibet
schaute ihm ungerührt hinterher. Dann gesellte sie sich zu Bao, während dieser den Inhalt des Kartons auf den Tisch ausschüttete. Shan erhob sich, um mehr erkennen zu können, und sah kurz zur Tür. Falls er sich jetzt leise hinausschlich, ohne den Verdacht der Leute im vorderen Büro zu erregen, würde ihm vielleicht die Flucht gelingen. Doch er drehte sich wieder um, weil er wissen wollte, welche Habseligkeiten Laus sich in Xus Besitz befanden. Drei Bücher. Ein kurzes, schmales Messer, fast wie ein Dolch. Eine Holzschachtel von der Größe eines Schuhkartons, wenngleich nur halb so hoch. Mehrere Notizbücher. Eine kleine Jadestatue eines Pferdes. Ein schlichtes Weißmetallkästchen, das durch häufigen Gebrauch zahlreiche Beulen aufwies und dessen Deckel mit einer Reihe rosafarbener rechteckiger Einlegearbeiten aus Koralle verziert war - ein Etui für Schreibgeräte, wie man es häufig in tibetischen Unterrichtsräumen antraf.
Der Anblick der Gegenstände schien Bao seltsamerweise zu besänftigen. Er starrte darauf und wandte sich dann an Xu. »Zweifellos haben Sie mein Büro über die Ergebnisse Ihrer Ermittlungen unterrichtet.«
»Es gibt noch keine offiziellen Ermittlungsergebnisse, Genosse. Immerhin handelt es sich lediglich um eine vermißte Person. Das hier ist bloß ihre persönliche Habe, falls es uns gelingen sollte, irgendwelche Angehörigen ausfindig zu machen. Die Sachen stammen aus ihrem Schlafraum im Wohnheim für Lehrkräfte. Da Platzmangel herrscht, wurde ihr Zimmer für jemand anderen geräumt.«
»Und doch steht der Karton hier auf Ihrem Tisch für Beweismittel«, sagte Bao spöttisch.
Shan tastete sich langsam vorwärts. Er blieb im Hintergrund und damit außerhalb von Baos Reichweite, aber er kam nahe genug, um die Gegenstände genau in Augenschein nehmen zu können. Die Bücher waren Gedichtbände, und das oberste erkannte Shan sogleich. Es enthielt die Werke Su Dongpos, eines seelisch gebrochenen Staatsbeamten aus der Sung-Dynastie, der wundervolle Gedichte über das Leben im Exil verfaßt hatte.
»Sogar noch im Tode sind Sie viel zu nett zu ihr«, sagte Bao, nahm das Messer und hielt es hoch, als wäre dadurch irgend etwas bewiesen.
»Ein Brieföffner«, gab Xu zurück und bemühte sich nicht, ihren Unwillen zu verbergen.
Als der Major seine riesige Hand auf die Schachtel legte, bemerkte Shan, daß der vorzüglich verarbeitete Behälter aus Rosenholz gefertigt und am Rand mit zarten Blumenschnitzereien versehen war. Bao nahm die Schachtel und schüttelte sie. Etwas darin klapperte. Er drehte den Kasten um und suchte nach einem Verschluß.
»Eine Vexierschachtel«, merkte Xu lakonisch an. »Aus der Ch'ing-Dynastie.«
Shan sah, daß sie recht hatte, und erkannte erfreut, daß es sich um ein sehr altes Stück handelte, eine jener hölzernen Vexierschachteln, wie sie in China vor zwei Jahrhunderten beliebt gewesen waren. Es gab keine zwei identischen Exemplare, und man konnte sie nur öffnen, indem man auf einen bestimmten Punkt drückte oder mehrere Teile in der richtigen Reihenfolge herausschob. Überrascht kam Shan auf den Gedanken, daß Xu die Schachtel vielleicht nur deswegen intakt belassen hatte, um selbst die korrekte Kombination aus Druck und Schub herauszufinden, mit der sich die Geheimnisse des Inhalts enthüllen ließen. Er selbst hätte es genauso gemacht.
»Sie begreifen es wirklich nicht, oder?« stellte Bao mit hämischem Grinsen fest. Er warf der Anklägerin einen merkwürdig vergnügten Blick zu, legte die Schachtel auf den Tisch und ließ mit einer abrupten Bewegung seine Faust wie einen Hammer darauf herabsausen, so daß der Kasten zerbarst.
Er ignorierte Xus wütende Miene und schob die Holzsplitter auseinander. Im Innern des Behälters hatten sich zwei metallene Gegenstände befunden, eines davon war ein fünf Zentimeter messendes Bronzetrapez mit der eingravierten Abbildung eines fliegenden Vogels. Das andere war eine funkelnde Goldmünze.
Bao nahm die Münze und reckte sie wie eine Trophäe empor. Es war ein Panda, ein von Peking für den internationalen Sammlermarkt geprägtes Goldstück von einer Unze Gewicht. Der Major warf Xu einen triumphierenden Blick zu und kehrte zu seinem Stuhl zurück, wobei er die Münze weiterhin von sich gestreckt hielt. Als Xu sich umdrehte und ihm folgte, steckte Shan schnell das Bronzemedaillon ein.
Bao ließ die Anklägerin warten und zusehen, während er die Münze vor sich auf den Tisch legte und dann ganz langsam und
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