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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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glaube ich. Aber hier ist Ko sein Vorgesetzter. Ko Yonghong.« Der Gedanke schien ihr neuen Mut einzuflößen, denn sie hob kokett den Kopf. »Jeder kennt Ko. Er nimmt mich oft in seinem neuen roten Auto mit, einem Wagen ohne Dach. Sie wissen schon, wie im amerikanischen Fernsehen.«
    Plötzlich schwang die zweiflügelige Tür auf, und Anklägerin Xu betrat den Raum. Shan beugte sich tiefer herab und versuchte, sein Gesicht hinter dem Computermonitor zu verstecken. »Loshi«, rief Xu und ging auf die Sekretärin zu. »Ich brauche.« Sie verstummte mitten im Satz. Sie hatte Shan gesehen.
    Langsam richtete er sich auf. Sie bedachte ihn mit einem eisigen Blick und sah dann zu dem jungen Mann am Schreibtisch, der seine Zeitschrift fallengelassen hatte, aufgestanden war und Shan nun wachsam mit den Augen eines Raubtiers beobachtete. Jetzt erkannte Shan ihn wieder. Bei dem Zusammentreffen an der Werkstatt hatte er den Wagen der Anklägerin gefahren.
    »Danke, Fräulein Loshi«, sagte Shan. Er erwiderte den Blick des Mannes, den er für den Leibwächter der Anklägerin hielt, ohne mit der Wimper zu zucken. Unterdessen trat Xu zu der schweren Holztür am anderen Ende des Raumes und hielt sie auf. Shan wandte den Kopf und ging in das Büro der Anklägerin. Xu blieb stehen, um ihn vorbeizulassen, eilte dann zu Loshis Tisch und stellte eine Frage, die Shan nicht hören konnte. Loshi hielt sich ein Blatt Papier wie einen Schild vor das Kinn und antwortete nervös. Dann kehrte Xu in ihr Büro zurück und schloß die Tür hinter sich.
    Der Raum war ursprünglich als Schlafzimmer gedacht. Anklägerin Xus Schreibtisch stand auf einem niedrigen rechteckigen Podest, das sich vor der Mitte der getäfelten Rückwand aus dem hinteren Bereich des Mosaikbodens erhob und genau einem großen Bett Platz geboten hätte. Vor dem Schreibtisch standen auf der Plattform einige Stühle im Halbkreis. Genaugenommen handelte es sich nicht um einen Schreibtisch, sah Shan, sondern um einen schweren Tisch aus dunklem Holz, dessen Rand mit Schnitzereien verziert war, die den Vogel- und Blumenmotiven des Bodens entsprachen. Ein weiteres Artefakt aus der Vergangenheit dieses Gebäudes, wie man es in den östlichen Städten vor einigen Jahren noch auf einem Scheiterhaufen verbrannt hätte. Shan setzte sich auf den mittleren Stuhl.
    Xu nahm hinter dem Tisch Platz und verschränkte die Hände. »Nicht einmal ein Inspekteur aus Peking hat das Recht, mein Büro ohne meine Erlaubnis zu benutzen«, knurrte sie.
    »Ihr Büro, Genossin Anklägerin, gehört dem Justizministerium«, sagte Shan und war abermals überrascht, wie leicht ihm die Worte über die Lippen kamen. Nicht überrascht, dachte er kurz darauf, sondern erschrocken, daß der alte Shan, der einstige Generalinspekteur des Wirtschaftsministeriums, so dicht unter der Oberfläche lauerte. Er biß die Zähne zusammen und klopfte auf den Umschlag. »Beauftragte des Ministeriums sind jederzeit zugangsbefugt, falls sie beispielsweise Fälle von Korruption oder Amtsmißbrauch untersuchen.«
    Die Worte zeitigten den gewünschten Effekt und ließen Xu für einen Moment verstummen. Shan hatte wenig Hoffnung, ihren Zorn besänftigen zu können, aber vielleicht würde es ihm gelingen, ihn so lange von sich abzulenken oder wenigstens hinauszuzögern, bis sich ihm eine Fluchtmöglichkeit bieten würde. Und falls kein Entkommen möglich war, könnte er eventuell Xus Überheblichkeit ausnutzen, um ihr zu entlocken, was sie über die Morde wußte.
    Xus Oberlippe hob sich, als würde sie die Zähne fletschen, aber ihr Blick war auf ihre Hände und nicht auf Shan gerichtet. »Ich habe nichts zu verbergen. Und ich habe auch nichts zu befürchten von.« Sie wurde unterbrochen, denn die Tür zu ihrem Büro ging auf, und ein massiger Bulle von einem Mann kam hereingestürmt.
    »Ziehen Sie sie ab!« brüllte er Xu an. »Ziehen Sie Ihre verdammten Hosenscheißer ab, oder ich verständige Peking! Sie gefährden meine Untersuchung!« Seine feisten Wangen waren gerötet. Während er schrie, sprühten Speicheltröpfchen aus seinem Mund.
    Shan brauchte nicht erst die graue Uniform zu sehen, um zu erkennen, um wen es sich handelte. Das Büro für Öffentliche Sicherheit war eingetroffen, und wenn er bis vor einem Moment noch eine winzige Fluchtchance besessen hatte, durfte das Thema hiermit als erledigt gelten. Er stand langsam auf und kämpfte gegen den Knoten an, der sich in seinem Leib zu bilden schien. Dann zog er sich schweigend

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