Das Auge von Tibet
lebenslanger Haft verurteilt hatte und dem vor einem Jahr die Flucht gelungen war. Eine andere galt einem Mann, der zehn Jahre lao gai verbüßen mußte, weil er eine Si-Lui-Gedächtniszeremonie abgehalten hatte. Si Lui, Vier Sechs, stand für die gewaltsame Niederschlagung des Protests auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989. Das gelbe Klebeband war für politisch besonders gefährliche Kriminelle reserviert.
Shan nahm wieder Jaklis Akte zur Hand. Sie enthielt Kopien aus den Schulunterlagen, in denen disziplinarische Unterrichtsvergehen gemeldet wurden. Der lange Bericht eines Politoffiziers besagte, daß Jakli einst eine Musterschülerin gewesen und für die Ausbildung in einem kommunistischen Jugendlager vorgesehen worden war. Aber im Alter von zwölf Jahren hatte sich alles verändert, weil sie, wie der Offizier schrieb, unter den Einfluß kultureller Reaktionäre geriet. Damit waren die kasachischen Schafhirten gemeint. Als Jakli zwölf war, hatte die Armee ihr Pferd erschossen, erinnerte Shan sich. Die Akte endete vor zwei Jahren. Keine Kopie von Laus Brief an die Anklägerin. Er sah noch einmal auf den Aktendeckel. Teil eins von zwei hatte jemand handschriftlich dort vermerkt. Aber Teil zwei befand sich nicht in der Schublade. Shan schaute auf dem Tisch nach, wo einige Akten zur neuerlichen Einsortierung bereitlagen, dann bei den Bürger-Gutachten, um eine versehentliche Falschablage auszuschließen. Nichts. Jemand anders interessierte sich ebenfalls für Jaklis gegenwärtige Akte.
Schnell durchsuchte er noch einmal die Bürger-Gutachten. Marco Myagov. Nichts. Dann stieß er am Ende der Schublade auf eine rot markierte Akte mit der schlichten Aufschrift Eluosi. Sechs Seiten beschäftigten sich mit anderen Personen. Sie umfaßten je ein Formular pro Mann oder Frau und enthielten abgelehnte Anträge zur Ausstellung von internationalen Reisepässen. Der Rest der mehr als einen Zentimeter dicken Akte war Marco gewidmet. Mehrere Gesuche auf die Erteilung einer innerstaatlichen Reise- oder Arbeitserlaubnis. Shan las das erste, das inzwischen fast sechzehn Jahre alt war. Marco hatte darum gebeten, mit seinem kleinen Sohn ins nördlich gelegene Yining reisen zu dürfen, um einen im Sterben liegenden Onkel zu besuchen. Ein großer roter Stempel prangte darauf. Abgelehnt. Das nächste sechs Monate später, um der Beerdigung beizuwohnen. Abgelehnt. Und noch eines, um eine besondere Schule für seinen Sohn zu finden. Abgelehnt. Antrag auf eine Arbeitserlaubnis. Abgelehnt. Ein Dutzend weiterer Gesuche aus einer Vielzahl von Gründen, allesamt abgelehnt. Der letzte Antrag lag mehr als zehn Jahre zurück. Ansonsten nur noch Berichte der Öffentlichen Sicherheit, die auf Marcos politische Unzuverlässigkeit abzielten oder sogar auf eine vermutete Schmuggeltätigkeit hinwiesen. Aber nirgendwo wurde eine Haftstrafe für Marco erwähnt, nicht mal in einem Reislager. Auch schien es keine wirklichen Beweise gegen den Mann zu geben. Shan blätterte zum jüngsten Eintrag vor, einem Memo von Leutnant Sui mit Kopie zur Kenntnisnahme an Anklägerin Xu. Kürzlich erfolgte Befragungen deuteten darauf hin, daß Marco eine der Karawanen organisiert hatte, die nach wie vor zur Versorgung der Hochgebirgsdörfer im Kunlun und in Aksai Chin eingesetzt wurden. Aksai Chin. Shan starrte die Worte an. Sie bezeichneten eine umstrittene Grenzregion, ein ödes, vom Wind gepeitschtes Gebiet, das sowohl von Indien als auch von China beansprucht wurde, wenngleich es unter der Kontrolle des chinesischen Militärs stand. Marcos Karawane, so der Bericht eines Informanten, sei mit acht Reitern aufgebrochen und nur mit vier Reitern zurückgekehrt.
Eilig beendete Shan seine Notizen und öffnete die Tür. Die nervöse Sekretärin saß mittlerweile an dem nächstgelegenen Tisch und arbeitete an einem Computer. An einem der anderen Tische saß ein junger Mann, der wie ein Soldat aussah, obwohl er einen Anzug trug, und las in einer Zeitschrift. An der Wand stand ein kahlköpfiger Mann mit einer Tasse Tee, der Mann, den Shan schlafend in der Eingangshalle gesehen hatte. Shan zögerte kurz, zog dann seinen Notizblock hervor und schrieb auf ein leeres Blatt den Namen von Kaju Drogme. Er ging zu der Sekretärin, beugte sich über ihre Schulter und zeigte ihr den Zettel. »Ich muß wissen, für wen dieser Mann arbeitet«, sagte er.
Die Frau wurde rot und schaute kurz zu dem Mann am Nebentisch. »Der gehört zur Brigade«, flüsterte sie verschüchtert. »Urumchi,
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