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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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mit eindeutiger Freude über Xus Unbehagen ein Päckchen Zigaretten hervorzog und sich eine davon anzündete. »Vielleicht«, sagte Bao und stieß dabei eine Rauchwolke aus, »fangen Sie doch nicht alle Kriminellen, Genossin Anklägerin.«
    »Lau hat viele Jahre hier gearbeitet, und zwar mustergültig«, erwiderte Xu mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Es ist kein Verbrechen, seinen Lohn anzusparen.«
    Shan stand neben dem Tisch und betrachtete die Münze, die vor Bao lag. Sie war mehr wert, als manche der Hirten in einem Jahr verdienten.
    »Ihre mustergültige Genossin hatte Geheimnisse. Gute Bürger haben keine Geheimnisse. Wer aufrichtig an die sozialistischen Gebote glaubt, hat so etwas nicht nötig.« Bao lächelte humorlos und enthüllte eine Reihe gelb verfärbter Zähne. »Es gibt in Yutian Leute, die den Zusammenhalt der Gesellschaft bedrohen. Mit ein paar losen Enden fängt alles an.«
    »Was wollen Sie damit andeuten?« gab Xu barsch zurück. »Sie war eine derjenigen, die diesen Zusammenhalt gefördert haben. Wir haben sie gebraucht.«
    Bao schüttelte den Kopf und atmete aus, wodurch er sich in Rauchschwaden hüllte. Dann fiel sein Blick auf einen Gegenstand, der auf Xus Schreibtisch unter einem Stück Papier verborgen lag. Er beugte sich vor und griff hastig danach. Shan erkannte es sofort. Es war eine keilförmige Tafel wie die aus Suwans Besitz. Nicht genau die gleiche, denn diese hier hatte am Rand ein gekreuztes Schraffurmuster, aber mit der gleichen, dem Sanskrit ähnelnden Schrift. Bao schob den oberen Teil heraus, dann mit Wucht wieder zurück und stand auf. »Wo haben Sie das hier gefunden?« herrschte er Xu an.
    »Bei Laus Sachen.« Die Anklägerin zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, inhalierte tief und schoß dann einen Rauchstrahl genau auf Bao ab. Wie das Duell zweier Drachen, dachte Shan. Er rückte näher, um einen besseren Blick auf das Holztäfelchen werfen zu können.
    Bao hob die Augenbrauen und schaute zurück zu den Gegenständen, die er auf dem Tisch verstreut hatte. Dann murmelte er gehässig etwas vor sich hin, so leise, daß Shan sich nicht sicher war, die Worte richtig verstanden zu haben. Es klang wie »Schlampe, diese verräterische Schlampe«.
    Bao wandte sich wieder der Anklägerin zu, die ihn verwirrt ansah. »Haben Sie jemanden hiervon verständigt?« fragte Bao. »Das Ministerium? Das Institut für Altertümer?«
    Xu warf Shan einen verunsicherten Blick zu und schüttelte dann langsam den Kopf. »Das ist doch bloß ein Holzspielzeug, das irgendwelche Kinder gebastelt haben«
    Baos Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. »Prima. Machen Sie nur so weiter, Genossin«, zischte er. »Überall Verrat, und Sie sehen nur Spielzeuge.« Er sprach jetzt zu der Holztafel. »Bedenken Sie all die Arbeit, die erforderlich war, und all die Opfer, die wir bringen mußten, um die großartigste Gesellschaft dieses Planeten zu erschaffen. Die Regierung gibt uns alles. Wir verdanken ihr alles. Die Vorstellung, daß sich irgendwo in diesem Bezirk Leute befinden könnten, die unserem Staat schaden wollen, macht mich ganz krank«, knurrte der Kriecher. »Sie irren sich bezüglich dieser Frau, Genossin Anklägerin. Sie war jemand anders, als sie vorgab. Es gibt keine wertlosere Lebensform als diese subversiven Elemente, die unseren Staat untergraben wollen. Insekten. Maden, allesamt, besonders die Westler, die das alles noch schüren. Wir werden sie zertreten. Und das gleiche wird mit denen geschehen, die sich uns in den Weg stellen.« Er steckte die Holztafel in eine der großen Außentaschen seiner Uniformjacke.
    Shan ertappte sich dabei, daß er immer noch neben dem Tisch stand. Eilig nahm er wieder auf dem Stuhl bei Xu Platz.
    Mit starrem Blick musterte Xu die Tasche, in der Bao die Tafel verstaut hatte. »Ich dachte, wir würden über Karawanen reden.« Merkte sie, auf welch gefährliches Terrain Bao sie locken wollte? überlegte Shan. Oder reagierte sie einfach nur auf das wilde Funkeln in seinem Blick?
    Aus einer seiner Brusttaschen zog Bao ein gefaltetes Stück Reispapier. »Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie dies hier noch nie gesehen haben?« Er entfaltete den Zettel, hielt ihn für einen Moment und drehte ihn dann um. Der Papierstreifen war ungefähr vierzig Zentimeter lang und enthielt ein mit Kinderhand geschriebenes Gedicht, und zwar auf Mandarin und in tibetischer Übersetzung. Der Meister sammelt Blumen, lautete die erste Zeile. Und hat Pollen an seinem

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