Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
einem Ziel gedient haben, nämlich der Erziehung der Waisen? Oder zumindest gewisser Waisen? Das Memo war in Kopie an jemanden namens Bao Kangmei gegangen. Shan hatte den Namen zuvor schon gehört. Das Lagerhaus im Lager Volksruhm war auf Anweisung von Major Bao geschlossen worden, dem Vorgesetzten Suis. Shan las die letzten beiden Sätze erneut. Sie wirkten vorwurfsvoll, als wolle Xu den Offizier der Kriecher tadeln.
    Das letzte Blatt der Akte war ein Formular, dessen Überschrift »Vermißtenbericht« lautete. Anklägerin Xu Li hatte es unterschrieben, und ein Durchschlag war wiederum zu Händen Bao Kangmeis geschickt worden. Shan las es oberflächlich. Die Schule hatte Laus Abwesenheit gemeldet, und bald darauf war am Fluß ihr Pferd aufgetaucht, und jemand hatte ihre Jacke aus dem Wasser gezogen. Nur der letzte Absatz enthielt neue Informationen. Ein Bürger hatte Leutnant Sui den Personalausweis der Vermißten überbracht und behauptet, ihn am Flußufer in der Nähe der Stadt gefunden zu haben. Sui hatte sich persönlich von der Richtigkeit dieser Angaben überzeugt. Er hatte also erst Zweifel an Laus politischer Verläßlichkeit geäußert und war später an der Untersuchung von Laus Verschwinden beteiligt gewesen.
    Shan überlegte und suchte dann noch einmal nach einer Akte über Kaju. Nichts. Er zog die Mappe mit Wangtus Namen heraus. Zehn Seiten mit Routinevermerken. Er sah sich noch gründlicher bei den Bürger-Gutachten um. Es gab eine Akte über Akzu, die umfangreicher als die von Lau war. Auf den Umschlag hatte man in roter Schrift Kultureller Agitator gestempelt. Shan sichtete den Inhalt. Darin wurde die Geschichte eines bäuerlichen Landbesitzers erzählt, den man, wie Tausende andere, zunächst enteignet und dann schrittweise rehabilitiert hatte. Ein sechs Monate altes Memo gab zu Protokoll, daß Akzu während einer Beurteilungssitzung öffentlich dafür gerügt worden war, daß sein Clan die vorgeschriebene Quote der Wollproduktion nicht erfüllte. Ein Landwirtschaftsexperte hatte sogar ausgesagt, Akzus hartnäckiges Festhalten an überholten Produktionsmethoden beraube die Gesellschaft wertvoller Fleisch- und Wollieferungen. Der jüngste Vorgang war einen Monat alt und bestand aus einem Schriftsatz des Hauptbüros der Brigade in Urumchi. Aufgelistet wurden die Namen von mehr als fünfzig Kasachen, die im Anschluß an die Durchführung des Programms zur Beseitigung der Armut für die Teilnahme an einer besonderen einjährigen politischen Erziehungsmaßnahme vorgesehen waren. Shan fand Akzus Namen ungefähr in der Mitte der Liste.
    Er legte die Akte zurück und trank einen Schluck von dem Tee, den die nervöse Sekretärin ihm gebracht hatte. Er war nicht zufrieden, aber worauf hatte er gehofft? Auf die Akte eines anonymen Amerikaners, der im Lager Volksruhm hingerichtet worden war? Er wandte sich wieder den Bürger-Gutachten zu und stieß zu seiner Überraschung auf eine Mappe, die man einfach nur mit Mei guo ren beschriftet hatte. Amerikaner. Darin fanden sich ein halbes Dutzend Memos der Anklägerin, allesamt kurze formelle Genehmigungen der Reisepläne diverser amerikanischer Touristengruppen. Nein, stellte Shan fest, in einem Fall hatte es sich nicht um eine Touristengruppe, sondern um eine wissenschaftliche Delegation gehandelt. Vor zwei Jahren wir unter dem Schutz des Museums für Altertümer in Urumchi eine Gruppe amerikanischer Archäologen und Anthropologen in die Region gekommen. Neben dem Memo umfaßte der Vorgang eine Namenliste, mehrere Beglaubigungsschreiben und eine Handvoll Fotografien. Nichts davon ließ sich mit dem jungen blonden Amerikaner aus dem Lager Volksruhm in Verbindung bringen. Einen der Namen kannte Shan. Deacon. Aber hier ging es um eine Frau aus Oklahoma, Abigail Deacon, die Verfasserin eines Buchs über alte Textilien. Der letzte Eintrag dieser Akte war ein Jahr alt. An den Umschlag hatte man eine harsche Anweisung des Büros für Öffentliche Sicherheit geheftet, laut derer alle Berichte über Amerikaner von nun an ohne Einbehaltung einer Kopie an Bao Kangmei weiterzuleiten seien.
    Aus den Prozeßakten suchte Shan das Dossier über Jakli heraus. Es war an der Kante mit einem gelben Klebestreifen markiert, so daß man es schnell finden konnte. Noch einige andere Akten waren auf diese Weise gekennzeichnet, aber nicht viele. Hastig überprüfte Shan mehrere davon. Eine gehörte zu einem Mann, den man wegen des tätlichen Angriffs auf einen Geburtenkontrolleur zu

Weitere Kostenlose Bücher