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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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lustigen Gewand.
    »Es wurde in einem Versteck in Laus Unterkunft gefunden«, behauptete Bao. »Zum Glück ist es der Öffentlichen Sicherheit gelungen, vor allen anderen Behörden Zugriff darauf zu erlangen«, fügte er anzüglich hinzu, faltete das Papier zusammen und steckte es wieder ein.
    »Die Erfindungen eines Kindes«, wandte Xu ausdruckslos ein, obwohl die Zeilen ihr deutlich zuzusetzen schienen.
    Shan starrte zu Boden, um keinem der beiden in die Augen sehen zu müssen. Das Gedicht handelte von dem Wasserhüter. Bao vermutete, daß es irgendwo einen Lama gab, einen illegalen Lama, mit dem Lau irgendwie in Verbindung gestanden hatte.
    »Außerdem bin ich in Turpan gewesen«, sagte Bao und ließ nicht erkennen, ob er die Anklägerin überhaupt verstanden hatte. »Ich habe die Reden gehört. Manch einer hat seine grundlegenden Pflichten aus den Augen verloren. Wenn man seine grundlegenden Pflichten vernachlässigt, begeht man ein Versäumnis gegenüber dem Staat, ganz gleich, wie hart man arbeitet.« Die Worte waren Shan vertraut. Bao zog sich auf politische Parolen zurück.
    Dann richtete der Blick des Majors sich zum erstenmal auf Shan. »Kennen Sie Ihre grundlegenden Pflichten, Genosse?« fragte Bao mit einem schmalen, freudlosen Lächeln. »Erkennen Sie einen Verrat, wenn er Ihnen begegnet?«
    »Ich vergesse nie, was ich dem Staat zu verdanken habe«, erwiderte Shan vorsichtig. Er mußte gegen den beinahe überwältigenden Drang ankämpfen, einfach loszurennen. Vor der Tür warteten Xus Leibwächter und der Mann an der Treppe sowie vielleicht noch andere, die inzwischen ihre Mittagspause beendet hatten. Mit etwas Glück würde Shan es an ihnen vorbei schaffen. Aber Major Bao war nicht der Typ Mann, der ohne Eskorte reiste. Draußen hielten sich bestimmt noch weitere Kriecher auf.
    Bao ließ den Rauch aus dem Mund treiben, so daß er sich um seine Wangen ringelte. »Das sagen Sie am besten auch Ihrer Anklägerin.«
    Shan biß so fest die Zähne zusammen, daß es weh tat.
    »Ich bin nicht seine.«, setzte Xu an. Schicksalsergeben drehte Shan sich mit leerer Miene zu ihr um. Xu sah ihm für einen Moment in die Augen und wandte sich dann wieder Bao zu, ohne den Satz zu beenden.
    »Ich halte Anklägerin Xu durchaus nicht für pflichtvergessen«, sagte Shan.
    Bao bedachte ihn erneut mit einem schmalen Lächeln und beugte sich vor. »Ich dachte, ich würde alle hiesigen Schnüffler kennen. Sind Sie neu?«
    Sein unglaubliches Glück hatte ihn im Stich gelassen. Eine Weile hatte die Hoffnung bestanden, daß die beiden ihr Treffen beenden würden, ohne daß Shans Status zur Sprache kam. Jetzt gab es jedoch nur noch zwei Möglichkeiten, diesen Raum zu verlassen. Mit Xu oder mit Bao. Er konnte nicht behaupten, für die Kriecher zu arbeiten, wie Xu vermutet hatte.
    Er konnte auch nicht sagen, er handle in Xus Auftrag, weil jedes Dementi von ihr eine sofortige Verhaftung durch Bao bedeuten würde. Shans einzige Chance bestand darin, Xu etwas anzubieten und ihr eine Vorstellung zu liefern, die ihre Neugier so weit weckte, daß die Anklägerin ihm Rückendeckung geben würde.
    Bao starrte ihn durchdringend an. Er war auf einmal sehr an Shan interessiert.
    »Ja, ich bin neu«, sagte Shan. »Ich komme aus Peking.«
    »Wer sind Sie?« fragte Bao. »Wie lautet Ihr Name?«
    »Ich bin jemand, der sich fragt, warum Sie sich anscheinend größere Sorgen um irgendwelche Schmuggler als um die Ermordung eines Ihrer Offiziere machen.«
    Baos Augen blitzten auf, und seine Oberlippe hob sich auf einer Seite und entblößte einen großen gelben Zahn, der wie ein Fangzahn wirkte. Dann stand Bao auf und warf seine noch immer brennende Zigarette auf Xus Schreibtisch. »Sie reden Blödsinn.«
    »An der Fernstraße. Vor zwei Tagen.«
    Bao ließ ihn nicht aus den Augen. »Auf der Straße kommen häufiger Unfälle vor«, murmelte er.
    »Sein Name war Leutnant Sui.« Shan hörte, daß hinter ihm Xu geräuschvoll einatmete. »Zwei Kugeln durchs Herz. Bestimmt haben Sie es schon gemeldet. Peking ist sehr daran interessiert, von Angriffen auf Offiziere der Öffentlichen Sicherheit zu erfahren.« Konnte es sein, daß Xu noch nichts von Suis Tod gewußt hatte?
    Bao wurde blaß. Seine Lippe hob sich ein weiteres Stück, fast bis zu seiner Nase. Es war kein Hohnlächeln - es glich eher dem Zähnefletschen mancher Raubtiere, die sich gleich auf ihre Beute stürzen wollten. Shan spürte, daß Xus Körper sich anspannte, aber er wagte es nicht, den Blick

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