Das Auge von Tibet
Shan brach den Blickkontakt ab und konzentrierte sich wieder auf den Vogel.
»Unmöglich. Sie sollten schon etwas genauere Nachforschungen anstellen, bevor Sie sich irgendwelche Geschichten ausdenken. Die Waisen haben einen neuen Lehrer. Alles geht weiter wie gewohnt. Aber natürlich wissen Sie das bereits. Immerhin haben Sie meine Sekretärin nach dem Mann gefragt.«
»Und doch, Genossin Anklägerin«, sagte Shan sehr langsam, »machen Sie sich Sorgen um Lau. Und darum, wie sie gestorben ist.« Er schaute zurück zu dem Beweismitteltisch. »Sie wurde ermordet. Und jetzt nimmt ihr Mörder sich die Kinder vor.«
Xu legte erneut die Stirn in Falten und seufzte. »Märchen. Erdichtet von den Reaktionären, um den Leuten Angst vor den Angleichungsprogrammen einzujagen. Lau ist durch einen bedauerlichen Unfall ums Leben gekommen. Sobald im Winter der Wasserspiegel des Flusses sinkt, werden wir ihre Leiche finden.« Sie ging zum Tisch, zog eine Schublade auf und nahm einen Schreibblock heraus. »Geben Sie Ihre Aussage zu Protokoll, Genosse«, sagte sie. »Ich glaube, Sie wissen bereits, wie das geht. Wir werden die Angaben bei der Bemessung Ihrer Strafe berücksichtigen.« Sie hielt kurz inne. »Vielleicht haben Sie ja tatsächlich geglaubt, die Kinder seien in Gefahr. Schreiben Sie das. Es könnte nützlich sein. Schlechte Elemente gefährden die Kinder. Sie lassen sich auf feudalistische Verhaltensmuster ein. Mißtrauen gegen die Obrigkeit. Blutfehden. Besessenes Festhalten an den überkommenen Bräuchen sterbender Kulturen«, empfahl sie und streckte ihm den Block entgegen. »Es sind durchweg Reaktionäre. All jene, die sich gegen unsere Bemühungen stellen, die Volksgruppen zu integrieren.«
Shan rührte den Block nicht an. »Kann es sein, daß Sie mit ihr befreundet waren?« fragte er vorsichtig. Xu hatte ein Memo geschrieben, um Lau zu schützen.
Die Anklägerin reagierte nicht.
»Ich habe ihre Leiche gesehen. Sie wurde auf die Schienbeine geschlagen. Man hat sie erst gefoltert, dann unter Drogen gesetzt und schließlich erschossen.« Shan ließ die Worte einen Moment wirken. »Was werden Sie bezüglich der Kinder unternehmen?«
Als Xu ihn diesmal ansah, blinzelte sie. Dann blickte sie zu Boden. Für den Bruchteil einer Sekunde lag ein Hauch von Unsicherheit auf ihrem Gesicht.
»Lau wurde alt«, sagte die Anklägerin. »Sie hatte Probleme mit ihrem Herzen.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?« Ihm wurde bewußt, daß sie noch keine seiner Fragen beantwortet hatte.
»Als wir davon ausgehen mußten, daß sie nicht mehr am Leben war, gab es eine Sitzung des Landwirtschaftsrats. Jemand hielt eine Rede zu ihrem Gedenken, und dabei wurde es erwähnt.«
Sie sah ihn an. Shan schüttelte langsam den Kopf. »Vielleicht sollten Sie Ihren Freund Bao nach den Kindern fragen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»In Peking hatte ich einen alten Freund, der seit vierzig Jahren dem Justizministerium angehörte. Er sagte, ich solle immer davon ausgehen, daß die Öffentliche Sicherheit zehnmal mehr weiß, als sie der Öffentlichkeit verrät, fünfmal mehr, als sie ihren Kollegen bei den anderen Regierungsbehörden erzählt, und doppelt soviel, wie in ihren Berichten an den Vorsitzenden steht.«
Xu pflichtete ihm mit säuerlichem Lächeln bei, zog dann ein Formular aus einem der Papierstapel auf ihrem Tisch und fing an, mit einem Bleistiftstummel einige Eintragungen vorzunehmen. »Vielleicht werde ich die Zeit finden, mich noch etwas näher mit Ihren Vorstellungen auseinanderzusetzen, Genosse. Nicht heute. Im Lager Volksruhm. Man wird Sie dort an einem besonderen Ort unterbringen, ganz für sich allein, so daß Sie in aller Ruhe überdenken können, wessen Sie sich schuldig bekennen sollten.«
»Ich habe eine bessere Idee. Lassen Sie mich gehen.«
Xu bedachte ihn mit einem kühlen Lächeln und füllte weitere Felder des Einweisungsformulars aus. »Shan«, murmelte sie, ohne den Kopf zu heben. »Ein verbreiteter Name. Er sagt mir nichts.«
»Sie wissen, daß Bao Sie belügt«, erwiderte Shan. »Sie wissen nur nicht, wie sehr. Außerdem sind Sie der Ansicht, Sie sollten etwas wegen Lau unternehmen. Was ist, wenn Laus Tod und der Mord an Sui miteinander zu tun haben? Lassen Sie mich gehen, und ich werde es herausfinden. Ich verspreche, daß ich mich bald wieder bei Ihnen melden werde. Hier, in Ihrem Büro. Sie glauben, weil Bao zur Öffentlichen Sicherheit gehört, könnten Sie nichts gegen ihn ausrichten. Aber das stimmt
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