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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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arbeiten und keinen Korruptionsfall untersuchen. Aber Sie wissen, daß Sui ermordet wurde, was man sogar vor mir geheimgehalten hat.« Xu stellte seine Behauptung nicht in Frage. Dann begriff er, daß Baos Reaktion Bestätigung genug gewesen war. Und Shan hatte sich geirrt. Xu hatte nichts von Suis Tod gewußt, davon war er nun überzeugt. Bao hingegen schon. Die Kriecher wußten, daß einer ihrer Leute ermordet worden war, und kümmerten sich überhaupt nicht darum.
    »Gehen Sie einfach auf einen der Märkte, und halten Sie zwanzig Minuten lang die Ohren offen, dann werden Sie schon merken, wie geheim die Sache ist.«
    Die Anklägerin ignorierte ihn weiterhin. »Also gehen wir davon aus, daß Sie sich in Gesellschaft fragwürdiger Elemente befunden haben. Zum Beispiel aufsässiger Nomaden. Oder vielleicht subversiver Hutmacher.«
    Die Worte trafen Shan härter, als Baos Hand dies je vermocht hätte. Xu hatte Shan bei der Werkstatt mit Jakli gesehen und eventuell auch die Wachen im Lager Volksruhm befragt, welche ihnen bekannten Personen mit dem Reislastwagen auf das Gelände gekommen waren. Shan sah zum Schreibtisch und hielt nach dem zweiten, aktuellen Teil von Jaklis Akte Ausschau.
    »Ich trage keine Hüte«, sagte er schwach.
    »Dann gehören Sie vielleicht zu den Schmugglern. Wir werden sehr viel Zeit haben, das herauszufinden.«
    »Ich gehöre zu niemandem.«
    »Aber Sie stammen aus Peking. Da bin ich mir sicher. Vielleicht wegen Ihres Akzents. Oder wegen des arroganten Auftretens, mit dem Sie sich hier eingeschlichen haben.«
    »Wie ich schon sagte, ich bin ein Ermittler. Ich heiße Shan. Und ich komme aus Peking.«
    »Aber Sie ermitteln nicht für Peking. Wollen Sie mir weismachen, Sie seien ein Privatdetektiv? Bitte, Genosse.«
    »Ich bin im Ruhestand.«
    Xu musterte ihn über den Rand ihrer Teetasse hinweg. »Und Sie sagen, Sie seien schon mal in einem Lager gewesen? Womöglich wurden Sie ja zwangsweise in den Ruhestand versetzt.«
    Shan hob seine Tasse. »Ich bewundere Ihre deduktiven Fähigkeiten.«
    »Und nun? Ermitteln Sie einfach so zum Zeitvertreib?«
    »Einige Freunde haben mich darum gebeten. Nichts, was für Sie von Interesse wäre«, behauptete er, ohne selbst daran zu glauben.
    »Abgesehen davon, daß Sie die Sicherheitsauflagen im Lager Volksruhm verletzen und dann meine Akten durchforsten.«
    Shan sah in seine Tasse. »Ich habe interessante Freunde.«
    Einen Moment lang wirkte Xu amüsiert, dann verhärteten ihre Züge sich wieder. »Falls ich nicht so viel zu tun hätte, könnte ich mehrere Stunden nur damit zubringen, mir all die Anklagepunkte gegen Sie auszudenken. Unbefugtes Eindringen ins Lager Volksruhm, dann der widerrechtliche Zugriff auf meine Akten, das allein würde schon einige Jahre Haft bedeuten. Doch ich glaube, wir sollten uns die Mühe ersparen.« Sie brauchte ihn lediglich nach seinen Papieren zu fragen, nach irgendeinem ordnungsgemäßen Identitätsnachweis, den er nicht besaß, oder nach einer vorgeschriebenen Reiseerlaubnis. Schließlich würde sie ihm befehlen, den Ärmel hochzuschieben, und die Tätowierung auf seinem Arm entdecken.
    Shan richtete seinen Blick auf einen geschnitzten Vogel nahe der Tischkante. »Ich bin wegen der Kinder hier«, sagte er leise. »Der Kinder, die ermordet werden. Laus Kinder.«
    Xu starrte ihn schweigend an. Mehr als einmal schien sie etwas sagen zu wollen, besann sich aber stets eines anderen. Dann stand sie langsam auf und ging zu dem Regal hinter ihrem Schreibtisch.
    Erschrocken stellte Shan fest, daß das kleine rote Licht an der Videokamera, die mittlerweile in dem Regal lag, noch immer brannte. Xu hatte ihr Gespräch aufgezeichnet. Jetzt allerdings nahm sie die Kamera, schaltete sie ab und legte sie wieder zurück, so daß die Linse zur Wand wies.
    Xu nahm wieder Platz, jedoch nicht hinter ihrem Schreibtisch, sondern auf dem Holzstuhl neben Shan. »Welche Kinder?« fragte sie. Ihre Stimme klang noch immer hart und argwöhnisch.
    »Ein neunjähriger Junge namens Suwan wurde durch einen Kopfschuß hingerichtet. Und im Kunlun-Gebirge hat jemand einen ungefähr gleichaltrigen Jungen namens Alta verprügelt und aufgeschlitzt. Beide Kinder haben Laus Waisenklasse angehört.«
    Xu runzelte die Stirn. »Sie sind verzweifelt, Genosse.« Offenbar hatte sie beschlossen, ihm nicht zu glauben. »Es gibt keine entsprechenden Berichte.«
    »Die Jungen waren bei Nomadenfamilien untergebracht.«
    Xus Augen schienen sich in seinen Schädel zu bohren.

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