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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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von Bao abzuwenden. Mit zwei schnellen Schritten stand der Major an seiner Seite, hob die Hand und verpaßte ihm eine schallende Ohrfeige.
    »Es wurde kein Offizier ermordet«, knurrte er und bewies im nächsten Atemzug eindrucksvoll, wie sehr ihm die sonderbare Logik der Politoffiziere zu eigen war. »Woher wissen Sie darüber Bescheid? Das ist eine Angelegenheit der Öffentlichen Sicherheit.« Seine wütende Frage war an Shan gerichtet, aber Baos Blick lag dabei auf Xu. Und als würde die Bemerkung etwas mehr Nachdruck erfordern, hob er seine große Pranke und ohrfeigte Shan ein weiteres Mal.
    Shan schmeckte Blut an der Innenseite seiner Wange. Er würde hier sitzen bleiben und sich von Bao für den Rest des Tages verprügeln lassen, aber er würde kein Wort mehr sagen. Shan trug in seinem Innern einen Ort mit sich herum, einen seltsam heiteren Ort, einen kleinen Raum, den er im Gefängnis errichtet und seitdem nicht mehr aufgesucht hatte. Manche der Gefangenen hatten ihn den Chinesischen Stein genannt, weil sein Widerstand sich nicht durch physische Schmerzen brechen ließ. Nach Ansicht einiger der Tibeter war der Grund dafür in der ausreichend vollzogenen Entwicklung seiner Seele zu suchen, so daß er stets bereit gewesen sei, seinen Körper zu verlassen. Er hatte diese Überzeugung nie geteilt. Er wußte nur, daß er sich ausreichend entwickelt hatte, um sich keinesfalls, nicht einmal unter Androhung des Todes, vor Männern wie Bao zu ducken. Dem Rest der Welt konnte diese Einstellung ziemlich gleichgültig sein, denn wenn solche Männer ihr Vorhaben nicht durch körperliche Folter erreichten, gelangten sie normalerweise mit Hilfe von chemischen Präparaten ans Ziel. Nur Shan war es nicht gleichgültig.
    Während er sich auf den nächsten Schlag gefaßt machte, dachte Shan an die tibetischen Sträflinge, die nach all der Folter, dem Hunger, der Kälte und sogar den Amputationen sich trotzdem noch bei Buddha dafür bedankten, daß er ihnen die Gelegenheit gegeben hatte, ihren Glauben zu beweisen.
    Benebelt vor Schmerz hörte er, daß Xu ihren Stuhl zurückschob und vom Tisch wegging. Er hatte verloren. Sie wird Bao bei seinem spaßigen Zeitvertreib zur Hand gehen, dachte er benommen.
    »Ich bin Xu Li, die Anklägerin des Bezirks Yutian«, hörte er sie laut und in professionellem Tonfall sagen, als würde sie sich an ein Tribunal wenden. »Im Namen des Justizministeriums fordere ich Major Bao auf, seine Übergriffe sofort einzustellen.«
    Bao hatte sich ebenfalls an einen Ort in seinem Innern zurückgezogen, der allerdings kein Ort der Heiterkeit war. Vielleicht sogar das genaue Gegenteil. Der Major schaute zu Xu und stieß ein Geräusch aus, das wie ein wütendes und zugleich angewidertes Knurren klang. Shan folgte seinem Blick. Er mußte einmal blinzeln, um Xu deutlich erkennen zu können, und dann noch mehrmals, bis er vollends begriff, was sie gerade tat. Die Anklägerin stand dort mit einer Videokamera und zeichnete den Vorfall auf.
    Bao nahm eine Teetasse und schleuderte sie an Xu vorbei, die ungerührt weiterfilmte, während die Tasse an der Wand hinter ihr zerschellte. Dann griff der Major sich die Goldmünze, machte auf dem Absatz kehrt, marschierte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
    Im Büro machte sich eine angespannte Stille breit. Von Baos Zigarette auf Xus Tisch stieg eine dünne Rauchsäule empor. Xu trat vor, sah erst zur Tür und dann zu Shan. Schließlich hob sie das Stück Papier an, auf dem die glimmende Zigarette gelandet war, und schüttete den Stummel in einen Aschenbecher, der nahe der Tischkante stand. Dann nahm sie den Telefonhörer ab und bat Loshi, zwei Tassen Tee zu bringen.
    Mit verschränkten Armen umrundete die Anklägerin zweimal ihren Schreibtisch und sprach kein einziges Wort, bis der Tee gebracht wurde.
    »Ich könnte Sie noch vor Einbruch der Dunkelheit ins Lager Volksruhm einweisen lassen«, sagte sie.
    »Ich bin schon in Lagern gewesen«, sagte Shan ruhig und erwiderte ihren Blick über die dampfende Teetasse hinweg. »Man lernt viel, aber das Essen ist schlecht.«
    »Bei unserem ersten Treffen dachte ich, Sie würden für die Öffentliche Sicherheit arbeiten. Ich hielt Sie für einen der neuen Agenten, die dem Projekt zugewiesen wurden.«
    »Dem Programm zur Beseitigung der Armut?«
    Xu reagierte nicht darauf. »Nehmen wir also an, daß Sie nicht zur Öffentlichen Sicherheit gehören. Und nehmen wir auch an, daß Sie nicht für das Justizministerium

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