Das Auge von Tibet
hindurch.
»Vielleicht wird der Sturm im Westen an uns vorüberziehen«, sagte Shan.
»Vielleicht«, sagte Jakli, aber sie klang nicht so, als würde sie wirklich damit rechnen. Sie war während der letzten Minuten allmählich immer blasser geworden.
»Diese Schlucht wird uns bestimmt etwas Schutz bieten«, versicherte Shan bei der Einfahrt in die Rinne.
»Der Sturm kommt aus Nordwesten«, sagte Jakli hörbar nervös. »Er baut sich am Fuß des westlichen Gebirges auf und gewinnt dann immer mehr an Stärke, je weiter die Wüstenhitze ihn anfacht. Er wird größer und schneller. Bei den richtigen Windverhältnissen könnte eine Karawane an einem Ort wie diesem davonkommen. Falls der Wind aber aus der falschen Richtung weht, bricht die Sandwoge über sie herein. Die Schlucht könnte außerdem wie ein Trichter wirken, wie eine schmale Bucht, die während einer Sturmflut schlagartig von einer Wasserwand überspült wird. Innerhalb weniger Minuten könnten sich hier sechs Meter Sand auftürmen.«
Zwischen den Wänden konnten sie den Sturm nicht länger sehen. Aber da war noch etwas anderes. Shan kurbelte sein Fenster ein kleines Stück herunter. Er hörte ein leises, gleichmäßiges Stöhnen, über dem eine Vielzahl schreiender und kreischender Stimmen zu vernehmen war.
»Ai yi!« rief Lokesh. »Was für ein Elend!»
Das mußte der zunehmende Wind sein, der über die seltsam geformten Vorsprünge und Risse der Sandsteinwände strich, aber die Geräusche klangen dermaßen menschlich, daß Shan ein eiskalter Schauder über den Rücken lief. Der Tränenbrunnen.
»Sie kommen her«, sagte Jakli und beugte sich auf ihrem Sitz vor, als könnte sie den Lastwagen durch reine Willensanstrengung schneller fahren lassen. »Die Seelen, die sich im Lauf der Zeitalter in der Wüste verirrt haben. Die Schwachen und Jungen, die sich nicht orientieren können und zu wenig Kraft haben, um von selbst den Weg ins nächste Leben zu finden. Hier versammeln sie sich, getrieben vom Wind, auf ewig gefangen.«
Shan sah Jakli an und wurde von einer merkwürdigen Beklemmung übermannt. »So heißt es in den alten Legenden, meinen Sie«, sagte er. Oder hatte er es nur gedacht? Seine Zunge kam ihm eigenartig dick vor, und sein Mund war so trocken, daß er kaum seine Lippen bewegen konnte. Jakli war sich keinesfalls sicher, daß es sich nur um Legenden handelte.
Und Lokesh, der auf seinem Platz weit nach vorn gerückt war und beinahe das Gesicht gegen die Scheibe drückte, schien überhaupt keine Zweifel zu haben. Er wußte, daß es keine Legenden waren.
»Spürst du es?« stöhnte der alte Tibeter mit einer Stimme, die Shan noch nie an ihm vernommen hatte, einer Stimme voller Qual. Lokesh fing an, die Perlen seiner Gebetskette durch die Finger gleiten zu lassen, während seine andere Hand flach auf dem Fenster lag, als wolle er sie den verlorenen Seelen entgegenstrecken. Seine Litanei veränderte sich, und das Mantra gewann merklich an Lautstärke. Er wollte, daß der Mitfühlende Buddha ihn bei all dem Lärm auch hörte, damit er kommen und die gestrandeten Seelen retten würde, sowohl die vergangenen als auch die gegenwärtig bedrohten.
Jakli schaffte es nicht mehr, ihre Angst zu verbergen. Ihre Hände begannen zu zittern. Eine dünne Staubfahne blies über die Rinne hinweg und erweckte drei Meter über dem Lastwagen den schaurigen Eindruck einer sich ständig verändernden Decke. Jakli fuhr unvermindert schnell. »Macht euch bereit!« rief sie über das ansteigende Tosen des Windes hinweg.
Shan sah sie verwirrt an und merkte dann, daß seine Hände anscheinend von allein begriffen hatten, was Jakli meinte. Sie hielten den Kompaß dicht vor das Armaturenbrett. Den verzweifelten Reisenden würde nur eine einzige Chance bleiben, eine Wettfahrt quer durch die Wüste zum Sandberg, einem Ort, den sie noch nie gesehen hatten und womöglich nicht einmal erkennen würden, zumal der Sturm ihn bei ihrem Eintreffen vielleicht bereits unter sich begraben hatte.
Würde der Kompaß während des Sturms überhaupt funktionieren? grübelte Shan. Könnten die Felswände seine Zuverlässigkeit beeinträchtigen? Würden die verlorenen Seelen auf neue Gesellschaft hoffen und die Nadel umlenken?
Die Nadel schwang heftig hin und her, bis Shan klar wurde, daß seine zitternden Hände dafür verantwortlich waren. Er umklammerte das Instrument fester, und die Nadel richtete sich aus.
Plötzlich sackte die Sanddecke über ihnen fast bis auf das Dach des
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