Das Auge von Tibet
manchmal auch Laotse, den Weisen des Tao, der vor vielen Jahrhunderten ebenfalls in der westlichen Wüste verschwunden war. Bisweilen schien er sich in einem der großen Lagerhäuser der Seidenstraße zu befinden und hörte die Schreie der Kamele oder aufgeregte Stimmen, die in vielen Sprachen durcheinanderredeten. Dann wieder verurteilte man ihn, weil er die Karawane des Kaisers verloren hatte, und band ihn an einen Pfahl, um ihn in tausend Scheiben zu schneiden.
In einer seiner Visionen saß vor ihm ein Mann mit heller Haut im grellen Licht einer Laterne und las mit klangvoller tiefer Stimme aus einem großen Buch vor, und die Worte, die er las, waren in englischer Sprache.
»Das Zelt«, sagte die Stimme, »in dem der Große Khan hofhält, ist groß genug, um tausend Prinzen Platz zu bieten. Jede Halle dieses Zeltes wird durch Säulen aus kunstvoll geschnitztem Duftholz getragen, und die Außenwände sind mit Löwenfellen behängt. Im Innern hängen nur Hermelin und Zobel.« Die Worte klangen fremd und doch vertraut - als hätte er sie zuvor schon gehört, aber in einer anderen Sprache und einem anderen Leben.
Was waren die Stufen des Bardo, während derer die Seele umhertrieb, bis sie den Pfad zur Wiedergeburt erkannte? versuchte er sich zu erinnern. Zunächst die Ignoranz, das Festhalten an der Illusion, daß der Körper noch am Leben sei. Dann die Erkenntnis vom Eintritt des Todes - das Stadium der flüchtigen Realität, wie es von den Lamas genannt wurde, weil die Ungewißheit sowie Sinnestäuschungen aus den früheren Leben den Toten zurückhalten und somit die letztliche Einsicht hinauszögern konnten, daß es keinen möglichen Weg außer der Wiedergeburt gab.
Er fiel zurück in die dunkle, stille Hölle und glaubte dann Ingwer zu riechen. Sein Vater ging dort vor ihm in den Schatten und war ganz aufgeregt, weil sie von einem alten taoistischen Tempel aus den Sonnenaufgang beobachten würden. Sie trafen einen liebenswürdigen alten Engländer, den sein Vater ihm als Professor für chinesische Geschichte vorstellte und der sich ihnen anschloß. Später blieb sein Vater stehen und fragte, ob sie müde seien. Er strich Shan mit der Hand über die Wange. Seine Hand war feucht. Sie war rauh. Sie stank.
Shan öffnete die Augen und schrie. Die Zunge eines silbernen Kamels leckte sein Gesicht ab. Dann setzte er sich auf, erwachte in seinem alten Körper, und das Tier neigte den Kopf und sah ihn ungläubig an. Mit einem Gefühl unverhoffter Freude begriff Shan, daß er aus irgendeinem Grund den Namen des Kamels kannte: Sophie.
Eine Gestalt erschien im Eingang seines Raums, blieb stehen und lief wieder weg, wobei sie aufgeregt etwas rief.
Einen Augenblick später rannte Jakli herbei, dicht gefolgt von Lokesh. Sein alter Freund kniete nieder, umschloß mit zerbrechlichen Fingern Shans Hand und lächelte über das ganze Gesicht. Jakli hielt Shan eine große Schöpfkelle an die Lippen und bestand darauf, daß er immer wieder daraus trank.
»Wie?« fragte er und stellte fest, daß seine Kehle rauh und trocken war, so daß er kaum sprechen konnte.
Seine beiden Freunde setzten gleichzeitig zu einer Erklärung an, und allmählich verstand er, daß ihnen dort draußen in der Wüste nicht etwa die Alten, sondern Marco und Deacon erschienen waren. Die beiden hatten sich in schwere Filzdecken gehüllt und mit Seilen an Sophie festgebunden, die wie ein Anker auf der nächstgelegenen Düne ausharren mußte. Es war ein alter Trick der Wüstenclans. Der Anker mußte oben bleiben, wo der Wind am schmerzhaftesten war, denn unten, an den etwas geschützteren Stellen, lagerte sich der Sand ab und begrub alles unter sich. Marco und der Amerikaner hatten sie in den Schutz der Decken gezogen und waren den Seilen dann zurück zu Sophie gefolgt. Dort hatten sie drei Stunden lang abgewartet, das Kamel als Windschutz genutzt und aus den Decken einen großen Kokon geformt. Als das Heulen des Windes nachgelassen hatte, hatten sie sich auf einer ausgedehnten Sandebene wiedergefunden, mehrere hundert Meter von der nächsten Düne entfernt. Der Lastwagen war verschwunden gewesen.
»Danken Sie Ihrem Gott, daß es nur so ein Winzling gewesen ist und kein ausgewachsener Sturm«, sagte Marco.
Jakli befeuchtete einen Lappen und wischte Shan das Gesicht ab. »Sie haben sich den Kopf am Wagen gestoßen«, erklärte sie. »Bei Ihrem Sturz gegen die Stoßstange.«
»Wie lange?« fragte er verwirrt.
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Fast
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