Das Auge von Tibet
zu unternehmen, doch da war noch etwas anderes. Nicht unbedingt Angst, aber etwas Ähnliches. Als läge ein böses Vorzeichen in der Luft.
Jakli schien es ebenfalls zu spüren. Fast während der gesamten Fahrt in die verlorene Stadt hatte sie nachdenklich geschwiegen, und nun blieb sie argwöhnisch stehen, als sie alle zwischen den Ruinen hervorkamen und das Kuppelgebäude vor sich sahen, in dem Shan zum erstenmal mit Marco zusammengetroffen war. Sie blickte zum Himmel, der für die nachmittägliche Stunde grau und unnatürlich dunkel wirkte, und runzelte die Stirn. Dann nickte sie in Richtung einer kleinen Staubfahne, einer winzigen Windhose, die auf die hinter ihnen liegende Mauer zutrieb. »Wenn einem nachts und beim richtigen Stand des Mondes ein solcher Winddämon begegnet, könnte man glauben, tatsächlich ein Gespenst gesehen zu haben«, sagte sie und versuchte, bei diesen Worten zu lächeln, doch die Anspannung ließ ihre Miene eher gequält erscheinen.
Lokesh, der vor ihnen stand, blickte dem wirbelnden Sand hinterher. »Als ich noch ein Junge war, hat ein alter Mann mir erzählt, daß Wirbelwinde eine der zehntausend Formen seien, die eine Seele anzunehmen vermag«, sagte er feierlich. »Auf diese Weise würden sie sich von Ort zu Ort bewegen und im Innern eine leuchtende Saat der Erkenntnis tragen.« Er musterte den Windteufel eindringlich, als bemühe er sich, etwas darin wiederzuerkennen. »Sie können ganz plötzlich auftauchen, wie ein Gedanke, und dann einfach.« Lokesh zuckte die Achseln, während der Wirbel über die Mauer glitt und außer Sicht verschwand. »Und dann einfach an uns vorüberziehen.«
Shan betrachtete den Pfad, den der Windteufel genommen hatte. In gewisser Weise kam ihm dies wie ein Sinnbild für alle Ereignisse vor, deren Zeuge er seit dem Aufbruch aus seinem Berg in Zentraltibet geworden war. Die Erkenntnisse zogen an ihm vorüber.
Trotz seiner merkwürdig verworrenen Gefühle hatte Lokesh begriffen, daß Eile geboten war. Inzwischen bestand kein Zweifel mehr, daß der Mörder seine Untaten fortsetzte, und die verbleibenden Jungen der zheli mußten gefunden und beschützt werden. Der Mao mit den Goldzähnen hatte es ebenfalls verstanden und war gleich nach der Flucht aus der Schule in Richtung Innenstadt verschwunden. Aber Jakli hatte recht. Da Shan weniger als zwei Tage blieben, mußte er sich auf die Amerikaner konzentrieren. Falls Bao der Mörder war, stellten die zheli und der Jadekorb für ihn lediglich Hilfsmittel auf der Suche nach subversiven Elementen dir. Sein eigentliches Ziel würden die illegalen Amerikaner und ihre Helfer sein. Und daher mußten dort auch die Antworten liegen.
Die Ruinen waren verlassen. Shan und die anderen schlichen sich wie Diebe vorsichtig voran, achteten auf jedes Geräusch und die leiseste Bewegung. Mitunter zuckten sie vor Schreck zusammen, wenn Lokesh beim Anblick der verfallenen Gebäude einen Laut des Erstaunens von sich gab. Mit kurzen, unsicheren Schritten betraten Jakli und Shan die Gaststube. Der Polstersessel und die Tische waren noch dort, ebenso das Schachspiel, aber man hatte alle Spuren der jüngsten Benutzung beseitigt. Auf den Tischen lag Sand. Ein Suchtrupp würde zwar merken, daß dieser Ort längst nicht so alt wie der Rest der Stadt war, aber niemand vermochte zu erkennen, ob die letzten Bewohner vor einer Woche oder vor einem Jahrzehnt von hier verschwunden waren.
Der hastige Aufbruch lag erst sechsunddreißig Stunden zurück. Seitdem hatte offenbar niemand mehr sich in Karatschuk blicken lassen. »Umsonst. Wir haben die Reise umsonst unternommen«, sagte Jakli enttäuscht, als sie wieder nach draußen kamen. »Niemand wird.« Sie hielt inne, weil Shan ihren Arm nahm und auf das Gehege wies, neben dessen Mauer Lokesh stand. Der alte Tibeter hielt einen dunkelbraunen Klumpen in der Hand und lächelte triumphierend. »Er ist frisch«, rief er und hielt sich den Klumpen unter die Nase. »Von heute!« Es war Kameldung.
Sie liefen zu Lokesh, der unterdessen den Kopf in den Nacken legte und zu den Felsen hinter dem Gehege aufblickte. »Dieser Ort ist herrlich voll von Geistern!« schwärmte er. Shan benötigte einen Moment, bis er erkannte, was die Aufmerksamkeit seines Freundes erregt hatte. Im Schatten unterhalb des Gipfelplateaus der Formation stand ein großes graues Geschöpf und beobachtete sie wachsam.
»Das ist kein Geist, sondern Osmans Hund«, sagte Jakli, die wieder etwas Mut zu schöpfen schien. Gespannt suchte
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