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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Wagen wies. Nach zwei Schritten brach der Wind über ihn herein. Der Sand stach wie Hornissen. Shan hatte gehört, daß es Stürme gab, in denen der Sand dermaßen heftig wehte, daß er Haut und Fleisch von den Gesichtern lebendiger Menschen zu schälen vermochte. Er dachte an die Statuen in Karatschuk. Vielleicht würde auch er so enden, von Wind und Sand bis zum Verderben abgenagt, der bloße Schatten eines Mannes.
    Etwas bahnte sich einen Weg in seinen Mund und seine Nase. Es war körnig und schmeckte nach Salz. Er bemerkte - abermals aus sonderbarer Entfernung, als würde er einen anderen beobachten -, daß er gestürzt war. Er hob eine Hand an den Kopf, der an der Stoßstange des Lasters lehnte und höllisch weh tat. Als er die Hand wieder wegnahm, schimmerte sie feucht und rot. Dann registrierte er gelinde überrascht, daß seine Beine verschwunden waren. Nein, nicht verschwunden, beschloß er, sondern lediglich unter der Sandwoge begraben, die sich immer höher an dem Wagen auftürmte. Eine halbe Beerdigung. Gab es überhaupt so etwas wie eine halbe Beerdigung? überlegte er benommen. Seiner Kehle entrang sich ein Geräusch, das wie das Quaken eines sterbenden Frosches klang. Dann schüttelte er heftig den Kopf. »Nein!« rief er. »Gendun!»
    Er zog sich an der Karosserie entlang, bis er die Tür gefunden hatte. Unter großer Anstrengung öffnete er sie gerade so weit, daß er hineinschlüpfen konnte.
    Lokesh und Jakli sangen mittlerweile gemeinsam, kein Mantra, sondern das Lied der Seelenhochzeit, und Shan lag auf seinem Sitz, rang keuchend nach Luft und hörte ihnen zu. Auf einmal verstummten die beiden.
    »Die Alten«, sagte Lokesh mit ehrfürchtigem und nicht etwa ängstlichem Flüstern. »Sie kommen, um uns in den Brunnen zu holen.« Dann sang er mit ruhiger Stimme weiter.
    Unter dem Ansturm des Windes löste die Gummidichtung sich immer weiter auf, und Sand wirbelte durch den Innenraum. Doch Shan hörte den Sturm nicht mehr. Er vernahm einen Chor leiser Stimmen und konnte jede einzelne erkennen. Sie gehörten den Lamas, die seine Seele gerettet hatten. Ihm stand kein neues Leben bevor. Er durchlebte frühere Existenzen. Ein Bild zuckte wie ein Traum durch seinen Verstand. Er war auf der Seidenstraße und verlor die Schätze des Kaisers. Er konnte Ingwer riechen. Sein Vater war ganz in der Nähe.
    Dann hörte er von hinten ein eigentümliches Geräusch, das wie ein Lachen klang. Blinzelnd vertrieb er den Sand aus seinen Augen und sah Lokesh fröhlich lächeln. »Ich habe immer gehofft, es würde so sein«, sagte sein alter Freund. »Sie kommen mich holen, und ich kann sie sehen.«
    Und tatsächlich tauchten aus dem Maul des Sturms zwei schwarzgekleidete, gesichtslose Phantome auf und reckten ihnen auffordernd die Arme entgegen. Die Alten waren gekommen, um ihre Seelen zu holen.
    Die weisen Tibeter lehrten, daß es zwar viele unterschiedliche Höllen gab, sie jedoch alle eines gemeinsam hatten: eine Atmosphäre tiefster Finsternis. Der winzige und schwache letzte Rest von Bewußtsein, alles, was von Shan noch übrig war, klammerte sich an diesen Gedanken. Es gab so viele verschiedene Höllen, wie es viele verschiedene Sünden gab, aber am schlimmsten waren die kalten Höllen, und diejenige, in der Shan sich befand, war mit Sicherheit die kälteste und dunkelste.
    Es gab nichts, nur eisige Schwärze und absolute Stille, damit er unter Qualen all seine Versäumnisse bedenken konnte. Er hatte die Kinder im Stich gelassen, die nunmehr sterben würden. Er hatte Gendun im Stich gelassen, den die Kriecher nun fangen und verschlingen würden. Er hatte auch den Wasserhüter im Stich gelassen.
    Shans Tortur wuchs und schwand mit dem Ausmaß seines Bewußtseins. Wenn er etwas spürte, spürte er Schmerz. Und wenn er versuchte, sich an Gesichter zu erinnern, sah er stets die Gesichter der toten Kinder.
    Einmal berührte etwas sanft seinen Kopf. Seine Augen öffneten sich zitternd, und er sah eine verschwommene Flamme. Einen Moment lang hatte er den Eindruck, zudem eine Frau mit weisen grünen Augen zu sehen, die sich über ihn beugte. Ihr Antlitz wurde durch die Flamme erhellt und wirkte wie aus edlem Porzellan gefertigt. Dann ging das Licht aus, und er war wieder in seiner kalten Hölle.
    Nach einiger Zeit - Stunden, Tagen, Jahren, er konnte es nicht sagen - kamen mitunter auch schöne Visionen hinzu, zum Beispiel die Gesichter heiliger Figuren. Manchmal sah er einen der vielen Buddhas, die er aus Tibet kannte,

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