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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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falsch. Mit einem Lastwagen geht es vielleicht. Es ist nicht der beste Sand für ein Fahrzeug.« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wartet heute nacht ab. Morgen wird es besser sein.«
    Jakli und Shan sahen sich an. Vor der Abfahrt aus Yutian hatte sie veranlaßt, daß am Abend des nächsten Tages ein Wagen der Maos ihn an der Straße vor der Stadt erwarten würde, um ihn nach Nepal zu bringen. Mehr konnten sie nicht erhoffen, hatte Jakli auf der Fahrt nach Karatschuk gesagt. Sie würden versuchen, die Jungen zu schützen und die gefährdeten Amerikaner zu warnen. Danach konnte Shan in sein neues Leben aufbrechen. Osman sah das Funkeln in Jaklis Augen und seufzte. Dann holte er aus einem seiner Körbe einen alten Kompaß und reichte ihn Shan. »Ihr dürft nicht länger als zwei Stunden brauchen«, sagte der Kasache. »Fahrt wie der Teufel. Unterwegs gibt es keinen sicheren Zufluchtsort.«
    Anfangs schienen Osmans düstere Befürchtungen nur schwer nachvollziehbar zu sein. Vierzig Minuten später, während der robuste kleine Lastwagen sich immer weiter durch den Sand vorankämpfte, ging Jakli vom Gas und zog erst den Kompaß und dann ihren Rückspiegel zu Rate, um sicherzustellen, daß sie sich weiterhin auf geradem Kurs befanden. Plötzlich stieß sie einen leisen erschrockenen Schrei aus. Shan folgte ihrem Blick nach Nordwesten. Ein winziges Stück des Himmels fehlte. Am Horizont schien über der Wüste ein grünschwarzes Loch zu schweben, das auf beiden Seiten von dunklen Wolken flankiert wurde.
    Jakli trat das Gaspedal durch. »Ein Sturm«, sagte sie beunruhigt. »Das ist der Keim eines Todessturms. Eines karaburan.«
    »Aber er ist zu weit weg«, sagte Shan. »Er könnte in jede mögliche Richtung weiterziehen. Es besteht kein Anlaß zur.« Er hielt inne, als er Jaklis verbissene Miene sah. Wortlos nahm er den Kompaß entgegen, während sie beide Hände um das Lenkrad schloß.
    Wenige Minuten später stimmte Lokesh eine Litanei an, doch es war kein Gebet, wie Shan kurz darauf erkannte. Lokesh sang die Wegbeschreibung zum Sandberg. Sie mußten dem Verlauf einer langgezogenen tückischen Rinne folgen, dem Tränenbrunnen, und dann standen ihnen noch fünf Kilometer in nördlicher Richtung bevor, bis sie das Ziel erreichen würden. »Woran werden wir den Brunnen erkennen?« hatte Shan gefragt, und Osman hatte lediglich gelacht, als sei dies eine törichte Frage.
    »Es ist bloß ein Sturm«, sagte Shan wenig überzeugend. Einen Himmel, wie er sich jetzt im Norden auftat, hatte er noch nie gesehen. Mittlerweile schien es sich nicht mehr nur um ein Loch im Horizont zu handeln. Es wirkte wie ein riesiges Maul, das nun unverkennbar näher kam, als wäre es ein gewaltiges Raubtier, das irgendwie ihre Anwesenheit spürte.
    »Deshalb sollten wir uns beeilen«, sagte Jakli. »Osman hat den Instinkt der alten Wüstenleute. Er hat gerochen, daß etwas in der Luft liegt.« Sie gab Vollgas. Immer wenn eines der Hinterräder des Wagens auf lockeren Sand traf, geriet das Fahrzeug ins Schlingern. Sie rasten über den Kamm einer kleinen Düne, so daß die Vorderräder den Bodenkontakt verloren und haltlos die Luft durchpflügten, bis sie wieder herabstürzten und sich mit einem beunruhigend dumpfen Geräusch in den Sand gruben. Der kleine Lastwagen schien kurz zu verharren und nahm dann wieder Fahrt auf. Bei dieser Geschwindigkeit konnte ihnen leicht eine falsche Landung unterlaufen, die den Wagen umkippen lassen würde. Und ein unbewegliches Fahrzeug im Sandsturm wäre wie ein Boot an einem Strand, dem sich ein Taifun näherte. Es würde innerhalb kürzester Zeit von den Naturgewalten verschlungen werden.
    »Der Brunnen!« rief Lokesh von der Rückbank. Sein Arm schoß zwischen Jakli und Shan nach vorn und wies auf eine lange niedrige Gratlinie vor ihnen, die exakt in der Mitte geteilt zu sein schien. »Genau nach Nordosten durch den Tränenbrunnen«, rezitierte er in gleichförmigem Tonfall. »Und hinter dem Brunnen wie ein Pfeil fünf Kilometer nach Norden«, wiederholte er die Worte genau so, wie Osman sie ihnen zuletzt noch einmal eingeschärft hatte.
    Der Brunnen war eine Rinne zwischen zwei mit Schotter und Geröll übersäten Felswänden, und je näher sie ihm kamen, desto fester wurde der Untergrund, so daß die Räder des Wagens besseren Halt fanden. Aber die Wände schienen sich endlos weit zu erstrecken, bis hinter den Horizont.
    Hatte Osman gesagt, daß sie vorher abbiegen sollten? Nein, sie mußten ganz

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