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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Lastwagens herab. Dann verschwanden die Felswände. Ein mächtiger Windstoß ließ das Fahrzeug erzittern, und Jakli bemühte sich angestrengt, in die Richtung der Kompaßnadel zu steuern, die Shan ihr mit ausgestrecktem Arm anzeigte. Er warf einen Blick auf den Kilometerzähler. Sie mußten lediglich fünf Kilometer zurücklegen. Fünf Kilometer, um den Sturm zu besiegen und dem Tod zu entgehen.
    Jaklis Kopf wandte sich der Unwetterfront zu.
    »Nein!« rief Shan. »Sehen Sie nicht hin!« Er wollte ihr den Anblick des Mahlstroms ersparen, dem er selbst nun ausgesetzt war und der ihn mit Schrecken erfüllte. Der Sturm erstreckte sich über den gesamten westlichen Himmel, und das riesige schwarzgrüne Maul stand offen und kam genau auf sie zu. Nein, sah er, eigentlich war es noch viel schlimmer, denn alles über und unter ihnen schien dieselbe beängstigende Farbe angenommen zu haben. Es gab keinen Himmel und keinen Boden mehr. Die ganze Welt verschwand in einem Chaos aus wirbelndem Sand. So mußte es sich anfühlen, wenn man mitten im Ozean auf einer winzigen Insel stand und eine gewaltige Flutwelle auf sich zurollen sah.
    Lokesh betete sein Mantra noch lauter als zuvor, als wolle er den Sturm zurücktreiben.
    »Noch drei Kilometer!« sagte Shan nach einem kurzen Blick auf die Anzeige. Sein Arm begann zu schmerzen, doch er hielt ihn weiterhin ausgestreckt und zeigte beständig die Kompaßrichtung an. Eine Träne rollte über Jaklis Wange. Zweieinhalb Kilometer. Vielleicht würden sie es schaffen, vielleicht konnten sie das Ungeheuer besiegen. Zwei Kilometer.
    Dann brach Jakli in Schluchzen aus, und Shan begriff, daß der Wagen sich nicht mehr vom Fleck bewegte. Der Wind erweckte zwar diesen Eindruck, aber die großen Reifen des Fahrzeugs hatten sich im frisch aufgetürmten Sand festgefahren und drehten sich nutzlos auf der Stelle, so daß der Kilometerzähler weiterlief. Dann begann der Motor zu stottern und erstarb.
    Sie hörten nur noch das Heulen des Windes. Der Lastwagen wankte wie ein kleines Boot in stürmischer See. Jakli starrte kurz nach draußen und wandte sich dann seltsam ruhig an Shan. »Dieser kleine Schreibblock«, sagte sie verschüchtert. »Dürfte ich ihn mir mal ausleihen?«
    Shan reichte ihr Block und Bleistift. Sie schrieb ein paar hastige Zeilen, riß das Blatt heraus, faltete es zusammen und steckte es in den zerknitterten Umschlag, der Shan bereits im Lager Volksruhm aufgefallen war. Dann verstaute sie alles unter ihrem Hemd, direkt auf ihrer Haut.
    Shan wußte nicht, was sie geschrieben hatte, und er wollte es auch nicht wissen, aber als sie ihm den Block mit traurigem Lächeln zurückgab, war der Abdruck des Bleistifts auch auf dem nächsten Blatt noch deutlich zu erkennen. »Bleib nicht, Nikki. Ich werde in dem schönen Land immer bei dir sein. Ich liebe dich auf ewig.« Die Nachricht war auf englisch verfaßt, und Shan schämte sich, daß er sie gesehen hatte.
    »Wir könnten rennen«, sagte er. Aus irgendeinem Grund fiel ihm Jaklis ursprüngliche Warnung ein. Takla Makan bedeutete Ort ohne Wiederkehr.
    Lokeshs Mantra war inzwischen leiser geworden.
    »Hier draußen sind viele gute Menschen geblieben«, sagte Jakli mit hohler Stimme und noch immer zaghaft lächelnd. »Kriegermönche. Kaufleute der Seidenstraße. Pilger. Ich hätte nie gedacht.« Sie verstummte, lehnte sich auf ihrem Platz zurück und betrachtete das kleine Sandrinnsal, das durch einen Riß in der Dichtung der Frontscheibe hereinrieselte. Dann stimmte sie ein tibetisches Lied an. Shan hatte es zuvor schon gehört. Es war sehr alt und wurde als ein Lied der Seelenhochzeit bezeichnet. Es erzählte von Liebenden, die durch den Tod getrennt wurden.
    Als Shan in den Rachen des Sturms blickte, überkam ihn ein befremdliches Gefühl, als wäre er jemand anders, der dies alles nur als Zuschauer verfolgte. Er schlug ein leeres Blatt am Ende des Blocks auf. Jemand hat im Himmel Tinte verschüttet, sah er sich schreiben. Jetzt kommt sie und ertränkt mich.
    Er beobachtete, wie seine Hand den Zettel nahm und in seine Tasche steckte. Dann kam er wieder zur Besinnung. »Nein!« brüllte er dem Sturm entgegen. Er würde die Ewigkeit nicht im Tränenbrunnen verbringen. Er schlang sich den Riemen seiner Tasche um den Arm, öffnete die Tür und stieg aus. Der Sand hatte fast die Höhe der Radkästen erreicht. Shan versuchte, den Kompaß abzulesen, aber er konnte ihn nicht ruhig halten, also beschloß er, die Richtung einzuschlagen, in die der

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