Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
heulendes Knattern hallte durch das Tal, so daß Shan fast in Panik geriet, weil er fürchtete, Lokesh und der Junge könnten festgenommen werden. Dies war die typische Vorgehensweise der Armee und der Kriecher. Um die Nomaden einzuschüchtern, stießen sie buchstäblich aus heiterem Himmel auf die Hirten herab und führten Ausweiskontrollen durch oder suchten nach illegalen Waffen. Man kann sich vor den Chinesen nicht verstecken, hatte ein alter dropka einst zu Shan gesagt. Sie haben Maschinen mit Gewehren, die in den Wolken leben.
    Shan sah den Hubschrauber über dem Felsgrat auftauchen. Dann zog jemand seinen Kopf nach unten und drückte ihn gegen das Kamel. Batu.
    Nachdem das Heulen des Motors verklungen war, wartete Marco noch zehn Minuten ab und rief den Kamelen dann ein einziges kurzes Wort zu, woraufhin die Tiere ihre Köpfe hoben. Kurz darauf folgten sie in schnellem Trab dem weiteren Verlauf des Pfades.
    Eine Viertelstunde später richtete Lokesh sich im Sattel auf. »Lha gyal lo!« schrie er und winkte, um Shans Aufmerksamkeit zu erregen.
    »Das Feld!« rief Batu.
    Als Shan mit den Augen Lokeshs ausgestrecktem Arm folgte, erkannte er, daß sie das Lamafeld zuvor bereits besucht hatten. Dort vor ihnen auf der Spitze der steil aufragenden Felsformation flatterte die große rote Gebetsfahne im Wind.
    Batu führte sie zu einem kleinen Vorsprung, der knapp dreihundert Meter von dem Flaggenfelsen entfernt lag. Einige niedrige Steinhaufen ließen hier die Umrisse eines früheren Gebäudes mit vier Zimmern erkennen. Es war direkt an der Wand und mit Blick auf die steile Felsformation errichtet worden. Ein Ort für Einsiedler. »Auf der anderen Seite stehen noch ein paar Wände«, erklärte Batu aufgeregt, als sie abstiegen. »Man kann dort die Gesichter tibetischer Götter sehen.« Er rannte zu den Ruinen und blieb alle paar Sekunden stehen, um mit lauter Stimme zu versichern, daß keine Gefahr drohe, sondern lediglich Batu und einige gemeinsame Freunde eingetroffen seien.
    Sie holten den Jungen auf der Rückseite des Felsens ein, wo sich ein großer einzelner Raum befunden hatte. Batu starrte hilflos die Wand an. Als Shan näher kam, roch er frische Farbe. Es hatte dort tatsächlich ein Wandgemälde gegeben, zweifellos sogar ein wunderschönes, das auch nach dem Einsturz der Außenwände durch eine überhängende Felsplatte geschützt worden war. Doch es existierte nicht mehr. Man hatte die Wand erst kürzlich mit schwarzer Sprühfarbe überzogen und darauf dann zwei Plakate geklebt. Zerreißt die Ketten des Feudalismus, stand auf dem ersten. Das andere war der säuberlich gedruckte chinesische Text eines staatlichen Erlasses, der die Ausübung religiöser Praktiken untersagte, sofern dafür keine Genehmigung des Büros für Religiöse Angelegenheiten vorlag.
    »Die Felsen«, murmelte Marco plötzlich und deutete auf Sophie. Das Kamel war einen Schritt vorgetreten und reckte nun den Hals in Richtung einer großen Felsnase auf dem oberhalb gelegenen Hang. Der eluosi lief sofort mit leisen Schritten auf den Vorsprung zu und bedeutete Shan mit einer Geste, ihm zu folgen. Dann verschwand er in einer schmalen Öffnung zwischen zwei riesigen Felsblöcken.
    Auf der anderen Seite der Felsen holte Shan ihn wieder ein. Marco stand am Rand einer großen Freifläche, die von mehreren Steinhaufen und den Resten einer Mauer umgeben wurde, welche aus Hinderten von langen dünnen Felsplatten bestand. Shan erkannte sie sofort. Es war eine heilige mani-Mauer, deren einzelne Steine man jeweils mit der Inschrift eines buddhistischen Gebets versehen hatte. Das hier war das eigentliche Lamafeld, und in seinem Zentrum kniete ein Junge neben einem frischen Erdhügel.
    Es handelte sich um Malik aus dem Lager des Roten Steins. Er strich mit der Hand über die Oberfläche des Hügels und sprach dabei leise Worte.
    Dann hörte er die anderen nahen, fuhr erschrocken herum und rannte los. Er hielt auf einen weiteren Vorsprung zu, der ein Stück höher am Hang lag. Shan sah, daß dort ein graues Pferd angebunden stand. Malik hatte das Pferd fast erreicht, als jemand in Shans Rücken etwas rief, das den Kasachen verharren ließ.
    »Seksek Ata!« erklang eine junge Stimme. Shan drehte sich zu Batu um, der drei Meter hinter ihm stand. Er hatte die Worte zuvor schon gehört. Es war der Name des Schutzgeistes der Ziegen und zugleich Maliks Spitzname.
    Malik drehte sich um, starrte ihnen entgegen und wich nicht von der Stelle, bis Shan ihn erreicht

Weitere Kostenlose Bücher