Das Auge von Tibet
werde hier übernachten. Ich muß die Anklägerin aufsuchen, das habe ich versprochen.«
»Unmöglich!« rief Jakli, dann jedoch schien sie die Entschlossenheit in Shans Miene zu registrieren und runzelte die Stirn. Marco reichte dem Jungen einen Apfel, über den Batu sich sofort gierig hermachte. »Nein«, sagte Jakli in neuem, beharrlichem Tonfall und schaute in Richtung Stadt. »Nicht dort, nicht in einer von Xus Fallen. Morgen nachmittag. Um drei Uhr an der Tankstelle, wo uns der Reislaster abgeholt hat. Auf unserem Gebiet.«
»Ich brauche etwas zu essen für die anderen«, sagte Batu zögernd.
»Die anderen?« wiederholte Jakli. Dann schien sie es zu begreifen, kniete sich neben den Jungen und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Du weißt, wo die anderen Jungen der zheli sind?«
Der Junge sah sich argwöhnisch um. »An einem Ort, der das Feld der alten Lamas heißt. Dort ist es sicher, ganz hoch im Gebirge. Ich wollte dorthin. Khitai hat gesagt, die Berggötter würden uns beschützen.«
Lokesh hob wachsam den Kopf.
»Soll das heißen, er hat dich dorthin mitgenommen?« fragte Shan.
»Ja. Zum erstenmal vor ein paar Jahren, als er erst sieben war. Er kannte den Ort selbst nicht, aber er hat irgendwie gespürt, wohin er sich wenden mußte. Als er dort ankam, hat er immerzu gelacht, als hätte er einen alten Freund gefunden. Es sind bloß ein paar eingestürzte alte Mauern. Aber mit einem wunderschönen Gemälde. Ich glaube, daß Khitai jetzt dort ist. Vielleicht will er Blumen pflücken, wegen der Aufgabe.«
»Welche Aufgabe?« fragte Shan.
»Laus letzte Aufgabe. Wir sollten Herbstblumen sammeln. Beim Feld der Lamas sind sie immer besonders schön, hat sie gesagt.«
Shan sah Jakli an und mußte an die Blumen vor Laus Höhle denken. Einige der anderen Kinder hatten ihre Hausaufgabe bereits erfüllt.
»Khitai weiß, daß einer der Schattenclans in den Bergen oberhalb des Feldes Schafe weiden läßt«, fuhr Batu fort. »Dorthin wird er vielleicht gehen, sobald er die Blumen hat. Es ist der Clan, bei dem Suwan war.«
Lokesh richtete sich kerzengerade auf, fast wie ein einsatzbereiter Soldat. Suwan hatte das Lager des Roten Steins besucht und war gestorben. Aber sein Clan war womöglich mit einem anderen Jungen der zheli , nämlich mit Khitai, von dort aufgebrochen, ohne von Suwans Schicksal zu erfahren. Immerhin wußten alle, daß Laus Kinder manchmal die Familien wechselten.
Jakli ging einige Schritte und ließ den Blick in die Ferne schweifen, als würde sie ihre Gedanken sammeln. Dann drehte sie sich um. »Ich kenne den Ort. Er liegt bei einem alten russischen Jagdhaus«, sagte sie und sah dabei Marco an.
»Kommt gar nicht in Frage.«, protestierte der eluosi .
»Sie können nirgendwohin«, drängte Jakli. »Und du kannst nicht hierbleiben. Die Brigade bringt ständig Pferde her.«
»Das wollen wir doch erst mal sehen.«, rief Marco, aber dann sah er Jakli an und atmete hörbar aus, so daß ein Laut über seine Lippen kam, der halb wie ein Pfeifen und halb wie ein verächtliches Schnauben klang. Wütend drehte er sich zu Shan um. »Da könnte man genausogut gegen die Wand spucken«, nörgelte er. Sophie wandte den Kopf, stieß ein kicherndes Geräusch aus und zeigte Marco dabei die ausgestreckte Zunge. »O mein Gott«, murmelte er, »nicht du auch noch.«
Dann nahm Jakli die Hand des Jungen und legte sie auf einmal in Shans Hand.
Shan war dermaßen überrascht, daß er seinen Arm beinahe zurückgerissen hätte. Er stand schweigend da und war im ersten Moment weder in der Lage, dem Jungen auch nur in die Augen zu schauen, noch den plötzlichen beißenden Geschmack der Angst auf seiner Zunge oder den Gefühlsaufruhr in seinem Innern zu begreifen. Langsam hob er den Blick und sah, daß Batu ihn zögernd und unsicher anlächelte. Eigentlich konnte Shan mit Kindern umgehen und auch gut mit ihnen reden, so wie er sich zum Beispiel vertraulich mit Malik unterhalten hatte. Aber das hier war Laus Junge. Einst hatte auch Shan einen solchen Jungen gehabt, einen Sohn, und er hatte ihn verloren, als der Kleine in Batus Alter gewesen war.
»Das ist Shan«, hörte er Jakli sagen. »Er ist ein Freund von Tante Lau.«
Shan fand sich auf den Knien vor Batu wieder und sah, daß er die offenen Schnürsenkel des Jungen zuband. Seine Hände drückten aus, was sein Herz längst empfand.
Während Jakli den Beutel mit dem Zaumzeug an Sophies Sattel hängte, holte Marco ein braunes Hemd aus der Packtasche und wies Batu
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