Das Auge von Tibet
gewesen ist. Ich wollte mit ihm reden und einige Worte sagen, die bei kasachischen Beerdigungen üblich sind und die ein dropka vielleicht gar nicht kennt. Genau damit war ich beschäftigt, als ich sie zurückkommen sah, um die Götter zu blenden.«
Die Götter blenden. Er meinte die Sprühfarbe auf dem Wandgemälde, begriff Shan.
Marco reichte dem Jungen eine Wasserflasche und ein Stück nan. Malik verschlang es mit Heißhunger. »Mein Gott«, murmelte der eluosi . »Sie sind praktisch noch Babys. Die Anklägerin stürzt sich wie ein Aasgeier auf sie.« Er legte Malik eine Hand auf die Schulter. »Wir müssen gehen«, sagte er und suchte den Himmel ab. »Xu kennt diesen Ort.«
Schweigend verstaute Shan die Habseligkeiten Khitais wieder in dem Beutel und entwand auch die Tasse Lokeshs Griff, als Malik und Batu dem alten Tibeter auf die Beine halfen. Dann blieb er bei dem Grab zurück, während die kleine traurige Prozession zwischen den Felsen verschwand. Vier Jungen waren tot. Ein Drittel der männlichen Angehörigen der zheli . Shan spürte, wie eine Woge der Hilflosigkeit über ihm zusammenschlug. Sie war schmerzhaft wie ein Hieb in den Magen. Er sank auf die Knie und legte die Hände auf das Grab.
»Es tut mir so leid«, hörte er sich selbst sagen. Er wußte, daß es keine geeigneten Worte für den toten Jungen gab. Wie hatte Marco es ausgedrückt? Niemand war unschuldig. »Ich hätte mein eigenes Leben gegeben, um zu verhindern, daß noch mehr von euch sterben müssen«, fuhr er mit etwas gefaßterer Stimme fort. Dann wurde ihm klar, daß Khitai nicht als nächster auf der Liste gestanden hatte. Womöglich hatte der Junge einfach nur Pech gehabt und war dem Mörder beim Lamafeld zufällig in die Arme gelaufen. Shan mußte an Lokeshs Reaktion denken. Vielleicht hatte er sich geirrt, und die Morde standen in keinerlei Verbindung zu den Amerikanern. War von vornherein Khitai das Ziel gewesen? Es schien, als seien hier zwei Motive, zwei Mörder, zwei Geheimnisse am Werk.
Shan verharrte stumm, bis er Marco von unten rufen hörte. Dann fuhr er hastig mit den Fingern durch die lose Erde. Am Kopfende des Grabes fand er einen vertrauten Gegenstand, ein geschwungenes Stück Holz, das einem Vogel ähnelte. Malik fertigte diese Schnitzereien für die toten Kinder an. Einige Zentimeter davon entfernt stieß seine Hand an etwas so Hartes und Kaltes, daß er zusammenzuckte. Es entpuppte sich als ein kleines schwarzes Metallgehäuse mit einem Scharnier. Shan klappte den Deckel auf. Es war ein Kompaß, ein erstklassiges Instrument mit Ölfüllung und dem Abbild eines roten Kreuzes, unter dem Made in Switzerland stand. Verwirrt starrte Shan darauf. So ein Kompaß kostete mehr, als das Monatseinkommen der meisten Hirten betrug.
Marco rief erneut. Shan vergrub den Vogel wieder, steckte den Kompaß ein, stand auf und überlegte. Dann lief er zu der mani-Mauer, nahm einen der Steine mit einem tibetischen Gebet darauf und legte ihn an das Kopfende des Grabes. Schließlich eilte er zurück zu seinen Gefährten.
Als er die anderen erreichte, zerrte Malik soeben Marco von einem kleinen Felsen neben den Ruinen weg. An der Unterkante des Steins gähnte ein Loch. »Bleib von diesem Bau fern«, warnte Malik. »Der Hase trägt jetzt einen Dämon im Leib.«
Shan und Marco tauschten einen überraschten Blick aus und traten bis an das Loch heran, zu dessen Seiten trockenes Gras und Zweige lagen. Marco kniete sich hin, spähte in den Schatten und stieß einen Fluch aus. Shan beugte sich vor und sah es auch: Gleich einem wütenden Auge leuchtete dort in dem Loch ein hellroter Punkt. Der eluosi griff hinein, holte zunächst den blutigen leblosen Körper eines Erdhörnchens daraus hervor und dann eine kleine Videokamera.
»Mit Bewegungssensor«, knurrte Marco, zog das Band heraus und warf es hoch empor, wo es auf einem Sims liegenblieb. Dann zerschmetterte er die Kamera an dem Felsen.
»Als sie wieder abgeflogen sind, wollten sie mit dem Hubschrauber neben der Flagge landen«, erklärte Malik, während sie in die Sättel stiegen. »Aber die Windgötter haben die Fahne beschützt. Also haben sie mit einem Gewehr darauf geschossen.« Die Flagge kam Shan tatsächlich etwas ramponierter vor als beim erstenmal.
»Das macht nichts«, versicherte Batu. »Bajys, dieser Freund von Khitai, hat uns erzählt, daß manchmal alte Männer kommen und die Flagge reparieren, und zwar schon seit vielen hundert Jahren. Alte Männer«, wiederholte der Junge
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