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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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mit weisem Nicken. »Oder vielleicht sind es auch Berggötter.«
    Diesmal ritt Batu hinter Lokesh. Nachdem sie einen kurzen Kamm überquert hatten, erreichten sie schon bald den Eingang eines tiefen Tals. Marco stieg ab. »Die Strecke ist gefährlich. Geht zu Fuß, und seid vorsichtig.« Er überprüfte das Geschirr der Kamele und band die Zügel an den Sätteln fest. »Die Tiere kennen den Weg.« Nach einem Klaps auf die Hinterhand lief Sophie auf einen seitlichen Weg, der anscheinend zum Fuß einer Klippe führte. Nein, es war keine Klippe, erkannte Shan, als das Kamel wenig später auf einen schmalen Serpentinenpfad einbog. Es war ein steiler Abhang, auf dessen hohem Gipfel Shan eine schornsteinähnliche Felsformation ausmachen konnte.
    Der mühsame Aufstieg dauerte fast eine Stunde. Als sie den Kamm erreichten, blieb Shan staunend stehen. Hier oben erstreckte sich ein kleines Plateau, das von unten nicht zu erkennen war. Rund um die Felsformation, die, wie Shan schnell bewußt wurde, von Menschenhand errichtet worden war, standen dichte Koniferensträucher. Es handelte sich um einen uralten Wachturm. Zwei Seiten des Plateaus wurden von steilen Felswänden begrenzt, die sich mehr als dreihundert Meter über ihnen zur Kuppe eines Berges erhoben. In etwa sechzig Metern Höhe entsprang aus der Wand eine Quelle und verlief in einem langen kristallenen Band bis zu einem kleinen Teich. Zwei Drittel der Ebene wurden von einer Wiese bedeckt, auf der verstreut ein halbes Dutzend Kamele stand.
    »Das waren die Armeen des tibetischen Königreichs«, erläuterte Marco, der sich zu Shan gesellte. »Zuerst haben sie Straßen entlang der Flußtäler des Kunlun gebaut und dann Truppen an geeigneten Verteidigungsstellungen stationiert.« Er deutete auf den alten Turm. »Die Hirten haben ihn wiederaufgebaut. Als mein Vater versucht hat, unsere Familie von China nach Indien zu bringen, wurden wir von einer Armeepatrouille verfolgt. Hier oben haben wir uns versteckt. Nach einer Woche wurde meine Mutter krank. Nach einem Monat liefen uns die Kamele weg. Irgendwann hat mein Vater einfach angefangen zu bauen. >Wir bleiben über den Wintere, sagte er, >denn hier ist es sicher.< Später sagte er dann: >Wir können genausogut auch noch den Sommer hierbleiben. Es gibt genug Wild.<« Marco zuckte die Achseln. »Das ist jetzt fast vierzig Jahre her. Wir haben einfach immer weitergemacht.«
    Als sie die Kamele um den Turm herumführten, kam ein großes Holzgebäude in Sicht, das eindeutig als kleiner Anbau begonnen hatte und dann etappenweise zu drei unterschiedlich hohen Abschnitten ausgebaut worden war. Zu beiden Seiten einer überdimensionalen Holztür mit schmiedeeisernen Beschlägen erstreckten sich vernachlässigte Blumenbeete. Am anderen Ende des Gebäudes ragte unter der höchsten Kiefer des Plateaus ein großes Kreuz mit zwei Querbalken auf. Davor waren drei Gräber angelegt.
    Shan und Marco nahmen den Kamelen die Sättel ab, während Malik und Batu den alten Tibeter zu einem Baumstumpf führten, wo Lokesh Platz nahm und das Gesicht in den Händen barg. Seit dem Aufbruch von Khitais Grab hatte er kein Wort mehr gesprochen. Marco warf dem alten Mann einen bekümmerten Blick zu, legte dann einen Arm um jeden der Jungen und führte sie zu der Tür. Dort stellte er sich vor die beiden, deutete eine kleine Verbeugung an und bat sie mit weit ausholender Geste hinein. »Willkommen im Sommerpalast des Zaren«, sagte er.
    Der eluosi geleitete sie in einen warmen, behaglichen Raum, dessen Dielenboden mit dicken Teppichen ausgelegt war. An der vorderen Wand hingen zu beiden Seiten der Tür die Felle mehrerer großer Tiere. Durch den offenen Eingang fielen die Strahlen der Nachmittagssonne herein und brachen sich in einem großen Messingsamowar, der auf einem Tisch am anderen Ende des Zimmers stand. Shan ging bewundernd darauf zu, wurde jedoch durch einige kleine verblaßte Schwarzweißfotografien abgelenkt, die über dem Tisch hingen. Auf ihnen waren Gestalten aus einer anderen Welt zu sehen. Von einem der vergilbten Bilder starrte ihm ein alter Mann mit Brille und einem langen weißen Bart entgegen; seine Augen schienen vor Aufsässigkeit oder vielleicht auch vor Wut zu funkeln. Auf der nächsten Aufnahme stand ein Mann mit einem sorgfältig gestutzten Bart neben einer schönen blonden Frau in einem Pelzmantel. Hinter ihnen wartete ein offener Pferdewagen samt Kutscher. Die Frau lächelte und sagte soeben etwas, bei dem es sich offenbar um eine

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