Das Auge von Tibet
hatte. Die Augen des Jungen wirkten glasig vor Kummer, und er sah nicht Shan an, sondern den Erdhügel. »Ich bin so schnell wie möglich hergeritten, weil die anderen Jungen gesagt haben, Khitai könnte hier sein. Aber als ich eintraf, ließen sie ihn bereits in das Grab hinab«, sagte Malik voller Schmerz. »Nur ein paar Stunden früher, und ich hätte ihn in Sicherheit bringen können.« Der Junge schwankte. Seine Hände zitterten. Im Vergleich zu dem kräftigen Jugendlichen, den Shan im Lager des Roten Steins getroffen hatte, wirkte er nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Seitdem war fast eine Woche vergangen. Mit der Gewißheit, daß hinter jeder Ecke der Tod lauern konnte, hatte Malik auf der Suche nach der zheli die Berghänge abgeritten und sich verzweifelt bemüht, dem Grauen irgendwie Einhalt zu gebieten. Laut Jakli war es ihm gelungen, zwei der Jungen ins Lager des Roten Steins zurückzubringen. Doch als er endlich das dritte Kind fand, hatte man bereits dessen Grab ausgehoben.
Lokesh tauchte auf und ging zu dem Erdhügel. Drei Meter davon entfernt lag auf einem der Felsen ein Leinenbeutel. Ängstlich starrte Lokesh ihn mit großen Augen an und näherte sich ihm dann mit winzigen zögernden Schritten. Als Shan an seine Seite trat, beugte Lokesh sich vor und leerte den Beutel auf dem Felsen aus. Das Gesicht des alten Tibeters schien in sich zusammenzufallen.
Dort vor ihnen lagen eine kurze, feingliedrige Eisenkette und ein schmaler, mit türkisfarbenen Kreisen versehener Behälter aus angelaufenem Kupfer - ein Etui für Schreibgeräte. Daneben stand eine verbeulte Blechtasse mit mehreren kurzen Strängen, auf denen verschiedenfarbige Holz- und Plastikperlen aufgereiht waren. Auch eine einzelne grüne Jadeperle befand sich darunter. Shan warf einen zweiten Blick auf das Etui. In Laus Büro hatte Lokesh ihn nach genau diesem Behälter gefragt.
Etwas war in der Öffnung des Beutels hängengeblieben. Shan zog es heraus. Ein flaches Stück Holz mit einem keilförmigen Einschub. Einer der Kharoshthi-Briefe.
Ein Geräusch entrang sich der Brust des alten Tibeters - es hatte den Rhythmus eines Mantras, bestand aber nur aus einem langen fortwährenden Stöhnen, als seien ihm die Worte entfallen. Mit beiden Händen umklammerte Lokesh die Blechtasse und schaute mit feucht schimmerndem, verzweifeltem Blick zu Shan auf. Zum erstenmal seit er ihn kannte, entdeckte Shan noch etwas anderes in der Miene seines Freundes, einen Ausdruck, wie er ihn zuletzt bei Bajys gesehen hatte, als dieser vor Laus Höhle verkündete, das Ende der Welt sei gekommen.
»Die Hirten dachten zunächst, er sei gestürzt, weil er vielleicht versucht hatte, auf den Felsen mit der Götterflagge zu klettern«, sagte Malik hinter ihnen. Shan drehte sich um. Der junge Kasache starrte reglos ins Leere, wie ein Soldat, der gehorsam Meldung erstattete. Wenn er sprach, bebten seine Lippen. »Aber seine Hose war voller Blut. Der Grund dafür war eine Klinge, die ihm durch den Bauch bis ins Herz gedrungen ist. Seine Hose war zerrissen, und ein Schuh fehlte. Sie sagten, sein Gesicht sei übel zugerichtet worden, als habe ihn jemand gegen den Kopf getreten. Ich glaube, Khitai hat sich gewehrt.«
Batu ging zu Lokesh und fing an, dem alten Mann sanft auf die Schulter zu klopfen.
»Was war in seinen Taschen?« fragte Shan. »Hat er etwas um den Hals getragen?«
Malik blickte noch immer ausdruckslos auf das Grab. »Nichts. Seine Sachen waren in dem Beutel. Sie wollten nämlich gerade aufbrechen.«
»Die Hirten, Junge«, sagte Marco grimmig. »Wohin sind sie gegangen? Was haben sie gesehen?«
»Sie sind fort, zurück in die Schatten. Diese dropkas hatten ihre Schafe allein mit den Hunden zurückgelassen und waren nur für heute hergekommen, weil Khitai es so wollte. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als einige Worte zur Beerdigung zu sprechen und dann so schnell wie möglich zu ihrer Herde zurückzureiten. Sie kommen niemals für lange herunter.« Malik sah Lokesh an. Der gebrechliche alte Tibeter wiegte sich vor und zurück, als hätte Batus Berührung ihn in Bewegung versetzt. »Ich habe sie gefragt. Sie haben nichts gesehen. Als sie Khitai hier zurückließen, um auf den Hochweiden nach verirrten Tieren zu suchen, saß er vor dem Gemälde. Aber es war diese Frau, die alle nur die Jadehure nennen. Ich habe sie gesehen, nachdem die Hirten gegangen waren. Ich hatte ihnen erzählt, ich wolle noch eine Weile bleiben, weil Khitai doch mein Freund
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