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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Gehstock, der in der Ecke neben der Tür lehnte, und streckte ihn Shan entgegen. In lateinischen Buchstaben war dort der Name Niccolo eingeritzt.
    »Das ist kein russischer Name«, sagte Shan. »Niccolo. Weder russisch noch kasachisch.«
    »Italienisch«, ertönte eine Baßstimme hinter ihnen. »Marco Polo hat ferne Länder besucht, aber vor ihm war bereits sein Vater Niccolo auf der Seidenstraße gereist. Er ist noch vor Marco in die Fremde aufgebrochen. Niccolo Polo Myagov«, sagte Marco voller Stolz.
    »Und so wiederholt sich die Geschichte«, stellte Shan fest und drehte sich um. Jakli würde demnächst nicht nur heiraten, und Lau hatte nicht allein wegen der Hochzeit dafür sorgen wollen, daß die junge Frau im Schutz der Bewährungsauflagen verblieb.
    Nikki war zum letztenmal mit einer Karawane unterwegs, hatte Osman gesagt. Shan hatte zunächst nicht begriffen, was Jakli im Angesicht des karaburan mit ihrem auf englisch verfaßten Brief ausdrücken wollte. Ich werde in dem schönen Land immer bei dir sein. Sie hatte damit das chinesische Mei Guo gemeint, das in direkter Übersetzung schönes Land bedeutete. Amerika.
    Marco musterte Shan schweigend, und seine Augen schienen sich zu weiten. Dann zuckte der eluosi die Achseln, nahm einen der anderen beiden Holzstäbe, die neben dem Gehstock in der Ecke standen, und betrachtete ihn geistesabwesend. Der Stab war glattgeschliffen und verjüngte sich zu einem kleinen Knauf. Ein Baseballschläger, erkannte Shan plötzlich. »Anfangs war er sich nicht sicher. Und dann mußte er auch noch Jakli überzeugen. Sie dachte, in Amerika gäbe es keine Pferde, weil jeder dort zwei Autos hat und gar nicht reiten will. Aber Deacon hat ihr erzählt, daß die Leute sich Pferde zum Vergnügen halten und auch er selbst eine Ranch besitzt. Er sagte, er würde ihnen Pferde kaufen. Also werden sie jetzt hier herauskommen, dem Himmel sei Dank.«
    Herauskommen. Eine Weile hatte auch Shan diese Absicht gehegt oder sich zumindest einreden können, es wäre so. Mittlerweile war der Wagen nach Nepal längst abgefahren. Er wußte schon gar nicht mehr, was wann passieren sollte. Unter Umständen war heute der Tag, an dem irgend jemand an der Grenze auf ihn warten würde, vielleicht ein oder zwei Stunden, vielleicht sogar den ganzen Tag. Irgendwann jedoch mußte derjenige zu dem Schluß gelangen, daß die Flucht vereitelt worden war. In gewisser Weise ließ Shans Scheitern in dieser Angelegenheit es nur um so wichtiger erscheinen, daß Nikki und Jakli die Außenwelt erreichten.
    Marco seufzte, ließ den Blick stumm durch das Zimmer seines Sohnes schweifen und bedeutete seinen Gästen dann, ihm zu folgen. »Es wird Zeit, daß Sie sich Ihren Lebensunterhalt verdienen.«
    Er führte sie nach draußen zu Sophie, die ihren Kopf Lokesh entgegenneigte, bis ihre großen feuchten Augen nur noch rund einen halben Meter vom Gesicht des Tibeters entfernt waren und den alten Mann durchdringend ansahen. Marco zog einen kleinen Metallhaken aus einem nahen Baumstumpf und reichte ihn Shan. »Stiefel«, sagte er zu ihm und hielt Lokesh dann eine Bürste entgegen. »Taschen.« Bei diesen Worten schien der Tibeter zu neuem Leben zu erwachen und nahm die Bürste lächelnd entgegen.
    Marco zeigte Shan, wie man mit dem Haken die Hufe des Kamels von Steinen und Zweigen befreite, die sich zwischen den Zehen festgesetzt hatten. Dann demonstrierte er Lokesh, wie er das dichte Fell auf Sophies Höckern bürsten mußte. Schließlich holte er eine Handvoll Zuckerwürfel aus der Tasche und gab sie den Jungen, die begeistert anfingen, die Leckerbissen an die Tiere zu verfüttern.
    Als Malik sich von den anderen entfernte, um das letzte Stück Zucker seinem Pferd zu geben, folgte Shan ihm. »Ich habe gesehen, was in seinem Grab lag«, sagte er zu dem Rücken des Jungen. Malik nickte nur und strich seinem Tier über die Mähne.
    »Hat der Kompaß Khitai gehört?« fragte Shan.
    »Nein«, flüsterte Malik, als fürchte er sich, darüber zu reden. »Seine zheli -Eltern sagten, das Ding habe in der Nähe seiner Leiche neben einem Felsen gelegen. Khitai muß es dem Mörder aus der Hand geschlagen haben.« Malik drehte sich zu Shan um. »Früher war es üblich, einem im Kampf gefallenen Krieger die Trophäen seiner Feinde mit ins Grab zu geben.« Dann zuckte der Junge die Achseln und wandte sich wieder seinem Pferd zu.
    Sie aßen einen Gemüseeintopf, den Lokesh auf dem kleinen Herd zubereitet hatte. Danach ging Shan hinaus auf die

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