Das Auge von Tibet
Weide, beobachtete den abendlichen Sternenhimmel, lauschte dem beruhigenden Rauschen des Wasserfalls und vertiefte sich ganz in die Friedlichkeit des Ortes. Hinter dem Haus sah er einen Lichtschimmer und entdeckte, daß dort Marco mit einer Laterne stand, leise mit Sophie sprach und ihren Rücken streichelte. Shan setzte sich auf einen Baumstamm und schaute ihm dabei zu. Er dachte nicht, daß der eluosi ihn bemerkt hätte, bis Marco ihn nach einigen Minuten zu sich heranwinkte. »Sie können ihr die Ohren kraulen«, sagte er. »Das gefällt ihr nach so einem anstrengenden Tag.«
Schweigend konzentrierten die beiden Männer sich eine Zeitlang nur auf das Tier.
»Sie ist ein prächtiges Geschöpf«, lobte Shan.
Marco nickte beifällig. »Und so schlau wie zwei Chinesen.« Kurz darauf hob er den Kopf und öffnete den Mund, als wolle er sich entschuldigen. Doch er überlegte es sich anders.
»Ihr Sohn«, sagte Shan. »Hat er eigene Kamele?«
»Er bevorzugt Pferde. Schon als Kind ist er mit dem Clan des Roten Steins geritten. Zur Zeit reitet er ein robustes schwarzes Bergpferd. Unter den Vorfahren seiner Mutter waren Kosaken.«
»Ist sie denn auch auf Reisen?« fragte Shan.
Marco senkte den Kopf. »Nicht hier«, sagte er dann, und sein Tonfall verriet, daß Shan zu weit gegangen war. Marcos Vater und Mutter waren hier gestorben, erinnerte Shan sich, aber es gab insgesamt drei Gräber.
»Ich habe einen Jungen«, vertraute Shan ihm leise an. »Er müßte jetzt sechzehn sein.«
»Müßte?«
»Ich weiß nicht, wie es ihm geht«, erklärte er. »Ich habe schon seit vielen Jahren nichts mehr von ihm gehört.« Marco sah ihn an und schien zu erkennen, daß auch in Shans Vergangenheit gewisse Punkte existierten, deren weitere Erforschung zu schmerzlich gewesen wäre.
»Sechzehn. Demnach ist er kein Kind mehr, sondern fast schon ein Mann«, sagte Marco. »Kaum jünger als mein Nikki. Hat er als Kind ein Pferd gehabt?«
»Nein. Kein Pferd.«
»Dann vielleicht ein Kamel?« Sophie hatte die Augen geschlossen, aber ihre Ohren bewegten sich, als würde sie das Gespräch verfolgen.
»Nein.«
»Nun ja, nicht jedermann ist in diesem Leben ein Dasein als Reiter vergönnt«, räumte Marco mitfühlend ein. Er holte einen hölzernen Kamm hervor und fuhr damit durch das Fell an Sophies Hals. Nach einer Minute reichte er den Kamm an Shan weiter und zeigte ihm, wie man ihn benutzen mußte, wobei er Shans Hand in seine mächtige Pranke nahm und durch das dichte Haar zog.
»Meine Sophie hat eine tiefere Seele als die meisten Menschen«, seufzte Marco. »Ich spreche mit ihr, und sie spricht mit mir. Einen Fremden wittert sie aus zwei Bergen Entfernung. Es gibt kaum jemanden, mit dem ich lieber zusammen wäre.« Er umrundete das Kamel, als würde er eine abschließende Überprüfung vornehmen, und sah dann Shan erwartungsvoll an.
»Kommen Sie mit, Mr. Shan. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Shan blickte überrascht auf. Marco sprach englisch.
»Shaann«, zog Marco das Wort in die Länge, während er mit Shan zur Vordertür ging. »Kein englischer Name. Auf englisch sollten Sie John heißen. Oder Johnny, wie man manchmal sagt.«
Shan lächelte. »Wie in einem amerikanischen Film«, erwiderte er in derselben Sprache.
»Genau. John Wayne!« rief Marco und wechselte dann wieder zu Mandarin. »Sie sprechen besser englisch als ich.«
»Mein Vater«, sagte Shan, und Marco nickte, als sei dies für ihn Erklärung genug.
Sie betraten das Zimmer am Ende des Korridors, eine große Kammer mit rauhen Holzwänden und einem riesigen Bettgestell aus halben Baumstämmen, auf dem sich Filzdecken und Felle türmten. An mehreren Balken baumelten Pelze, an der Wand hing ein Schwert und an Haken neben der Tür zwei alte Trommelrevolver. Auf einem Tisch neben dem Bett war ein Stapel englischsprachiger Zeitschriften umgestürzt. Seltsamerweise schienen sie sich alle mit Hochseefischerei zu beschäftigen. Shan nahm das oberste Heft.
»Kennen Sie das Meer?« fragte der eluosi zaghaft. Offenbar bemühte er sich, nicht allzu neugierig zu wirken, aber seine Augen verrieten ihn. Einen Moment lang sah er wie ein wißbegieriger Schuljunge aus. An der Wand hinter Marco hingen einige alte Kalender, die allesamt Farbaufnahmen von Meeresstränden oder Inseln zeigten. Die Region, in der Marco lebte, lag wahrscheinlich weiter von einem Ozean entfernt als jeder andere Ort auf diesem Planeten, überlegte Shan.
»Als Kind habe ich in der Provinz Liaoning in der
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