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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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gute Neuigkeit handelte.
    Auf einem der anderen Fotos war dasselbe Paar in einer zerklüfteten Gebirgslandschaft zu sehen, allerdings in einfache Wollgewänder gekleidet. Der Bart des Mannes wirkte nicht mehr so gepflegt, und die Frau hatte ihr Haar zu Zöpfen geflochten, wie es Feldarbeiterinnen za tun pflegen. Der Mann hielt ein Kind auf dem Arm, einen Jungen, dessen Blick eine trotzige Stärke verriet, die seinen Eltern abhanden gekommen zu sein schien. In der unteren Ecke des Rahmens steckte ein weiteres Bild, ebenfalls verblichen, aber jüngeren Datums. Es zeigte eine andere Frau mit markanter, wettergegerbter Miene, die ihr helles Haar mit einem Kopftuch zusammengebunden hatte. Batu ging hinaus und kam kurz darauf mit Lokesh an der Hand wieder zurück.
    »Meine Familie«, sagte Marco hinter Shan und klang dabei ganz sanft. »In besseren Tagen. Im Norden, in der Nähe von Yining.« Er ging quer durch das Zimmer zu einer großen, nur angelehnten Tür, hinter der sich ein Raum mit steinernen Wänden befand. Das Erdgeschoß des alten Wachturms. »Früher war das der beste Aufenthaltsort für uns Russen, denn Moskau hatte uns vergessen. Aber dann hat jemand im Jahre 1950 in irgendeinem gottverdammten Parteibüro in Peking eine Landkarte aufgeschlagen und einen großen leeren Fleck gefunden, auf dem noch nicht genug rote Fahnen zu sehen waren. Also haben sie Truppen nach Turkistan geschickt und beschlossen, daß die Grenze fortan entlang der westlichen Berge verlaufen sollte. Yining lag auf der chinesischen Seite, also wurden ein paar tausend ehemalige Soldaten dort angesiedelt.« Er schnippte mit den Fingern. »Von einem Moment zum anderen war Yining keine freie weißrussische Ansiedlung mehr, sondern eine chinesische Stadt. Und die ursprünglichen Einwohner hatten nur noch ein Recht, nämlich das Recht, von dort zu verschwinden. Leider hat man ihnen nicht gesagt, wohin sie gehen sollten.«
    »Dieser Ort hier ist doch gar nicht so schlecht«, sagte Shan.
    »Sicher, es war unsere eigene kleine Welt. Manchmal kamen die Hirten hier vorbei, und mein Vater tauschte bei ihnen Felle gegen die Dinge ein, die meine Mutter brauchte. Es lief ganz gut für uns. Dann brach ein Fieber aus. Ich war damals vierzehn, und für Leute wie uns gab es keine Ärzte. Nachdem ich das Schlimmste überstanden hatte, wachte ich allein in meinem Bett auf. Mein Vater lag tot über einem frischen Erdhügel. Ich dachte, er hätte unseren Familienschatz vergraben und schaufelte die Erde beiseite. Es war tatsächlich so - dort lag unser Schatz. Mein Vater war gestorben, während er meine Mutter begrub.« Marco drehte sich um und verschwand in dem Turm.
    Shan sah, daß Lokesh in der anderen Ecke des Zimmers einen Wandteppich gelüftet hatte und in einen dunklen Gang schaute. Als er den Korridor betrat, folgte Shan ihm und ließ Batu und Malik allein bei dem Samowar zurück, wo die beiden Jungen ihre Spiegelbilder bewunderten.
    Von dem Flur zweigten drei Türrahmen aus behauenen Balken ab. Der erste führte in einen großen Raum mit einem kleinen Eisenofen und einem Brettertisch, um den herum einige ungleiche Stühle standen. Manche davon waren aus dicken Ästen gefertigt worden, andere aus elegant geschnitztem Holz, mit dreckigen, wenngleich einst eleganten seidenen Sitzkissen.
    Von der Decke hingen ein großes Stück Trockenfleisch und einige kleine Netze mit Zwiebeln.
    Lokesh stand in dem zweiten Durchgang und betrachtete neugierig die Einrichtung des nächsten Zimmers. Über seine Schulter hinweg sah Shan, daß überall an den Wänden Fotos hingen, die man aus Zeitschriften ausgerissen hatte, darunter Bilder von Pferden und Vögeln, aber auch einige westliche Schauspieler beiderlei Geschlechts. Die meisten der Aufnahmen trugen englische Bildunterschriften. An zwei massiven Deckenbalken hingen einige Pelze. Über einem Regal voller Bücher klebte das Poster eines Rockstars aus Hongkong. In der Nähe der Tür stand ein grob gezimmertes Bettgestell, über dem an einigen Nägeln eine Reihe Militärmützen chinesischer, aber auch ausländischer Herkunft aufgehängt waren. Shan sah genauer hin. Indisch. Dann pakistanisch und eine weitere, deren Nationalität er nicht identifizieren konnte. Unter den Mützen hing das Foto eines lachenden Mädchens auf einem Pferderücken. Jakli. Auf der dicken Baumscheibe, die als Nachttisch diente, stand ein Radiorecorder, auf dem eine Kassettenhülle lag. Englisch für Fortgeschrittene. Lokesh nahm einen dicken

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