Das Auge von Tibet
verfaßt wurden.« Loshi ließ das Telefon sinken. »Ich glaube, ich kenne sonst niemanden, der so viel gelächelt hat. Wie eine alte Bettlerin hat sie gelächelt.«
Shan sah die Sekretärin mit gemischten Gefühlen an. Wie eine alte Bettlerin. Loshi meinte die vielen ehemaligen Nonnen und Mönche, die auf den Straßen Chinas um Almosen baten. Teilte ihre ganze Generation diese Ansicht und betrachtete die Mönche nur noch als Bettler? Er sah auf die Straße. Jakli sprach mit den Männern an einem der Tische. Vor der Werkstatt stand jetzt ein Pferdewagen, der offenbar Heu geladen hatte. Ein Mann pumpte Luft in einen der Gummireifen.
»Sind Sie hier geboren, Fräulein Loshi?« fragte Shan. »In Xinjiang?«
Sie schüttelte geistesabwesend den Kopf. »Wir stammen von der Küste. Vom Ozean. Nördlich von Shanghai. Genaugenommen wurde ich zwar hier geboren, aber wir kommen aus der Provinz Shandong. Mein Vater wurde vor vielen Jahren nach Kashi geschickt, um dort eine Fabrik zu leiten. Eines Tages kehre ich nach Shandong zurück. Anklägerin Xu sagt, sie könne meine Versetzung bewirken, falls wir bei unseren Fällen gleichbleibend hohe Aufklärungsquoten erzielen.«
»Sie wären lieber im Osten?«
»Wieder zu Hause? Aber natürlich.«
Zu Hause. Loshi war noch nie dort gewesen, aber Shandong war ihr Zuhause. Er sollte einen Brief an den Vorsitzenden schreiben. Hochverehrter Genosse. Nach fünfzig Jahren liegt uns nun ein schlüssiger Beweis dafür vor, daß unser Eingliederungsversuch der westlichen Gebiete leider gescheitert ist. Loshi will nämlich zurück nach Hause.
»Was ist mit der Anklägerin? Möchte sie sich ebenfalls versetzen lassen?«
Loshi lächelte spöttisch und öffnete ein Nylonfutteral, das vor ihr auf dem Tisch lag. Dann zog sie eine Schachtel Zigaretten daraus hervor und zündete sich eine an. Nach kurzem Zögern streckte sie auch Shan die Schachtel entgegen. Er schüttelte den Kopf.
»Sie geht nirgendwohin. Ich bin bald weg von hier. Aber Genossin Xu.« Sie zuckte die Achseln und stieß zwei kräftige Rauchstrahlen durch die Nasenlöcher aus. »Sie ist die dienstälteste Anklägerin Xinjiangs auf ein und demselben Posten. Zwölf Jahre. Und das ausgerechnet in Yutian.«
Shan fragte sich, ob die junge Frau wirklich begriff, was sie da sagte, oder ob lediglich Yutian in ihren Augen kein hohes Ansehen genoß. Zwölf Jahre auf diesem Posten bedeuteten für Xu einen deutlichen Karriereknick. Man hatte sie hergeschickt oder hier belassen, weil sie in Ungnade gefallen war. Er erinnerte sich daran, in welchem Tonfall Bao der Anklägerin von seinem Besuch einer Konferenz in Turpan erzählt hatte. Wenn man seine grundlegenden Pflichten vernachlässigt, hatte Bao gesagt, begeht man ein Versäumnis gegenüber dem Staat, ganz gleich, wie hart man arbeitet. Aber Xu war eine Fanatikerin. Sie war die Jadehure. Sie sorgte für Gefangenennachschub in den Reislagern. Sie schoß von Hubschraubern aus auf Gebetsfahnen. Welche grundlegenden Pflichten hatte Bao gemeint?
Shan warf einen Blick auf die Zigarettenschachtel. »Ganz schön teuer«, stellte er fest. Es war eine amerikanische Marke. Loto gai. Camels.
Loshi schien zu gefallen, daß er es bemerkt hatte. »Ich habe sie gestern von Ko bekommen. Als Entschuldigung wegen des Sportwagens. Er mußte ihn diesem Major Bao geben.«
Shan hätte sie fast gebeten, die Worte zu wiederholen. »Major Bao? Er hat seinen Sportwagen Bao gegeben?« fragte er ungläubig.
»Sie wissen doch, wie das ist.« Loshi zuckte die Achseln. »Die Öffentliche Sicherheit. Ko hat gesagt, er würde sich schon bald einen neuen besorgen.« Sie sog vernehmlich die Luft ein und beugte sich zum Fenster vor. Ein schwarzer Wagen, Xus Limousine mit der roten Standarte, bog soeben vor die Werkstatt ein.
Shan verharrte noch einen Moment, weil er einfach nicht begreifen konnte, wieso Ko seinen teuren Wagen einem Mann überlassen sollte, der nicht einmal sein Freund, sondern in vielerlei Hinsicht sogar sein Rivale war. »Ich gehe hinten herum«, sagte er in verschwörerischem Tonfall und stand auf. »Ich werde ihr nichts von unserem Gespräch verraten.«
Loshi warf ihm ein schüchternes, nervöses Lächeln zu, legte die Hände um das Mobiltelefon und sah wieder aus dem Fenster.
Von der Seite der Teestube aus beobachtete Shan, daß die Schachspieler sich sofort von ihren Plätzen erhoben und im Hintergrund verschwanden, als die Anklägerin vom Fahrersitz ausstieg. Sie blieb stehen, stemmte die Arme
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