Das Auge von Tibet
Verfügung, wenn diese Leute es nur wollen.«
»Mal statistisch betrachtet, Genossin Anklägerin, wie viele Schwerverbrechen werden Ihnen denn durchschnittlich von den Nomaden gemeldet?«
»Ein paar jedes Jahr.«
»Und wie viele von den Han-Chinesen hier im Bezirk?«
»Mehr als neunzig Prozent aller Anzeigen werden von Han-Chinesen erstattet.«
»Und wie hoch ist der Anteil der Han-Chinesen an der Gesamtbevölkerung?«
»Hier draußen geht die Umsiedlung nur langsam vonstatten.« Sie zuckte die Achseln. »Die offizielle Zahl lautet zweiunddreißig Prozent.«
»Und Sie nehmen es den Tibetern, Kasachen und Uiguren übel, daß diese die meisten Verbrechen nicht melden.«
»Es ist schwierig genug, ein solch riesiges Land zusammenzuhalten. Wir alle müssen kooperieren. Ein Bürger, der seine Mitwirkung versagt, ist kein vollständiger Bürger. Man muß die Leute dazu erziehen, daß sie sich an uns wenden.«
»Wie wär's mit einem riesigen tamzing ? Lassen Sie alle Hirten zusammenholen. Und ihre Schafe. Die Schafe darf man keinesfalls vergessen, denn die Herden sind schrecklich desorganisiert. Die Prioritäten der Partei.«
Xu musterte die Glut ihrer Zigarette, und ein Anflug von Verbitterung schien über ihr Gesicht zu wandern. Konnte es sein, daß sie ihre Aufgabe tatsächlich ernst nahm?
»Manchmal gibt es Ermittlungen, an deren Ende man sich wünscht, es hätte niemals jemand eine Anzeige erstattet«, sagte Shan. »Denn man muß einen Abschlußbericht erstellen.«
»Erklären Sie mir nicht meinen Beruf. Ich bin schon sehr lange Anklägerin, Genosse Shan.«
»Ich weiß«, gab Shan zurück. »Hier in Yutian seit zwölf Jahren.«
Sie fixierte ihn mit eisigem Blick. »Ich wollte sagen, daß ich weiß, wie man Berichte schreibt.«
Er sah sie an und erkannte das Eingeständnis in ihrem Blick.
Sie wußten beide, daß es zu den höchsten Kunstformen der Volksrepublik gehörte, den Abschlußbericht einer strafrechtlichen Untersuchung zu verfassen. »Meistens muß man nur darüber schreiben, wer die Verbrecher sind«, sagte er sehr langsam. »Aber manchmal gibt es Fälle, bei denen man darüber schreiben muß, wer man selbst ist.«
Xu entgegnete nichts. Sie zündete sich eine zweite Zigarette am Stummel der ersten an und starrte auf die primitive Tischplatte aus schlichtem Sperrholz, als würde sie sich plötzlich für das Muster der Holzkörnung interessieren. »Wir haben eine Akte über den toten Jungen angelegt. Direktor Ko hat mehrere Verdächtige vorgeschlagen. Ich habe versucht, weitere Leute ausfindig zu machen, die über Informationen verfügen könnten. Anscheinend wurde rund um die Kinder der zheli das meiste geheimgehalten. Lau hat ihre Aufenthaltsorte nirgendwo notiert. Niemand scheint viel zu wissen.«
»Direktor Ko?«
»Die Brigade weiß besser als jede andere Organisation über die Clans Bescheid. In gesellschaftspolitischen Fragen ist sie oft maßgeblich an der Durchführung beteiligt.« Xu fuhr sich mit der Zunge über die Innenseite der Wange, als würde sie auf etwas kauen. »Dadurch wird sie mitunter zum Ziel. Für Widerstandskämpfer.«
»Widerstandskämpfer?«
»Zum Beispiel Clan-Mitglieder, die das Armutsprogramm bekämpfen. Jemand hat gestern einen Lastwagen der Brigade sabotiert.«
»Einen Lastwagen?«
»Ein Viehtransporter wurde gestohlen. Ein Fahrer der Brigade hat mit seinem Wagen die Verfolgung ins Gebirge aufgenommen. In einer Kurve hat der Lastwagen sich überschlagen und ist ausgebrannt. Kasachen oder Uiguren waren dafür verantwortlich. Wir untersuchen die Angelegenheit.«
Shan sah sich erneut auf dem Gelände um. Hatten die Maos den Transporter gestohlen, um damit irgendeine Art Hinterhalt zu legen?
»Die Brigade stellt hier in Xinjiang unseren Antriebsmotor für gesellschaftliche Veränderungen dar. Wir alle müssen dafür sorgen, daß dieser Motor nicht ins Stocken gerät«, behauptete Xu. Es klang wie ein politisches Mantra, abgesegnet durch die Zentrale der Partei.
Shan dachte an seine letzte Unterredung mit Kaju zurück. »Was will die Brigade mit den Säuglingen der hiesigen Klinik anstellen?« fragte er.
Xu runzelte wieder die Stirn. »Jetzt kommt es Ihnen schon verdächtig vor, daß jemand Babys hilft? Sie sind paranoid. Völlig verblendet. Vielleicht fühlen Sie sich dermaßen schuldig, ein Han-Chinese zu sein, daß Sie alle Han-Chinesen hassen. Ich kann Ihnen einen...« Sie suchte nach einem Wort. »...einen Therapeuten besorgen, der Ihnen diesbezüglich
Weitere Kostenlose Bücher