Das Auge von Tibet
Perlenstränge. Die kurze Kette. Das Etui. Die verbeulte Blechtasse. Er wog jeden der Gegenstände in der Hand. Vielleicht standen weder Lau noch der amerikanische Junge am Anfang. Vielleicht hatte alles mit Khitai begonnen. Lokesh und Gendun waren hergekommen, um den Jadekorb zu finden, den man in Khitais Obhut gegeben hatte. Warum? Weil er ein schlaues, einfallsreiches kasachisches Waisenkind war, bei dem jeder eventuelle Feind zuletzt das Nachsehen hätte? Oder stellte der Junge aus einem anderen Grund etwas Besonderes dar?
Beiläufig nahm Shan die Kette und sah, daß in jedes der kleinen Glieder eine winzige Lotusblüte graviert war. Womöglich nur irgendein zufällig gefundener Schatz eines wißbegierigen Jungen. Oder auch ein Artefakt, erkannte er, gleich den zwölf miteinander verbundenen dorje-Ketten, die auf den Wandbildern hin und wieder in den Händen der tibetischen Schutzgottheiten lagen. Er zählte die Kettenglieder. Zwölf.
Er nahm die Perlen. Holz, Plastik und eine Jadeperle. Wieso bestanden die Enden der Stränge aus einem so langen Stück Schnur? Was hatten die gelben Perlen inmitten der braunen zu bedeuten? Warum waren auf einem der Stränge zehn kleinere Perlen so eng nacheinander angeordnet? Shan band zwei der Stränge zusammen, sah sie an und versuchte, in der Abfolge der unterschiedlichen Farben und Formen eine Logik zu erkennen. Dann fügte er, deutlich schneller, die restlichen Stränge hinzu, so daß sich ein Kreis ergab, und band dann den Strang mit den zehn kleineren Perlen daran fest, so daß dieser nach unten hing. Aufgeregt zählte er die Perlen nach. Die farbigen Exemplare unterteilten die Schlinge in vier gleiche Abschnitte. Die kleineren Perlen, die gesondert herunterhingen, waren zum Abzählen der Zehner- und Hunderterstellen gedacht. Der eigentliche Kreis bestand aus hundert acht Perlen. Es war eine mala . Der tote Kasachenjunge Khitai hatte eine tibetische dorje-Kette und den getarnten Rosenkranz eines Buddhisten besessen. Shan hatte den heimlichen Schüler des Wasserhüters gefunden.
Kapitel 13
Als Shan bei Anklägerin Xu anrief, würdigte sie ihn keiner Begrüßung. »Ich rede normalerweise nicht mit flüchtigen Rechtsbrechern«, sagte sie mit mühsam unterdrückter Wut. »Solche Leute sind Sache der Öffentlichen Sicherheit.«
Shan befand sich bei der Tankstelle am Rand der Fernstraße. Er hatte die Dienststelle des Justizministeriums von einer Telefonzelle aus angerufen und Fräulein Loshi gesagt, der Pekinger Freund der Anklägerin müsse unbedingt mit Madame Xu sprechen. »Ich habe Ihnen doch versprochen, daß ich mich bald wieder melden und weitere Beweise vorlegen würde«, sagte er.
»Damit war ich nie einverstanden«, gab Xu zurück. »Sie haben lediglich einen entsprechenden Vorschlag geäußert, und ich habe daraufhin beschlossen, Sie ins Gefängnis einweisen zu lassen. Dann sind Sie aus meinem Gewahrsam entflohen.«
»Heute nachmittag um drei«, sagte Shan und beschrieb ihr den Standort der Werkstatt.
»Ich lasse mich auf keine Verhandlungen ein, Genosse. Sie können sich in meinem Büro freiwillig stellen. Oder ich schicke eine Wagenladung Soldaten, die Sie vor meinen Schreibtisch zerren wird.«
»Verehrte Genossin Anklägerin«, sagte Shan geduldig. »Ich habe Ihnen von den Morden an den Kindern berichtet, und Sie haben mir zunächst nicht geglaubt. Ich dachte, Sie hätten in der Zwischenzeit vielleicht Ihre Meinung geändert.«
Xu überlegte kurz und antwortete dann mit angespannter Stimme. »In diesem Punkt muß ich Ihnen nachträglich recht geben.«
»Gut. Demnach arbeiten Sie und ich womöglich an einem gemeinsamen Ziel.«
»Wir beide haben nicht das geringste gemeinsam. Was den Tod des Jungen anbelangt, liegt bereits ein konkreter Verdacht vor.«
»Und was heißt das?« fragte Shan. In drei Metern Entfernung wanderte Marco wie ein Wachposten am Straßenrand auf und ab. Jakli hatte sie hier an der Tankstelle bereits erwartet und dann eine Orangenlimonade für Batu gekauft, der immer wieder in Richtung der Berge schaute. Malik hatte sich geweigert, das Gebirge zu verlassen, und setzte die Suche nach weiteren Angehörigen der zheli fort. »Daß Sie und Major Bao eine Übereinkunft getroffen haben? Sieht so die Justiz in Yutian aus?«
Am anderen Ende der Leitung herrschte eine Weile Schweigen. Shan hörte Stimmen im Hintergrund. Vielleicht befahl die Anklägerin, ihren Wagen vorfahren zu lassen. Vielleicht rief sie auch Verstärkung herbei.
»Na
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