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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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in die Seiten und ließ den Blick über das Gelände schweifen. Dann setzte sie sich an den freien Tisch und legte eine kleine Leinentasche vor sich hin. Kurz darauf kam Shan um die Ecke der Werkstatt und gesellte sich zu ihr.
    »Major Bao ist noch am selben Tag zurückgekommen und hat mich nach Ihnen gefragt«, sagte Xu verärgert. »Er war immer noch wütend. Er hat getobt und behauptet, ich hätte Sie verhaften sollen. Ich habe ihn nach dem Grund gefragt. Er sagte, Sie könnten eine vertrauliche Untersuchung gefährden, und hat nach mehr Informationen über Sie verlangt.«
    »Wie haben Sie reagiert?« fragte Shan.
    »Ich habe behauptet, Sie seien einer meiner Informanten«, sagte Xu und hielt inne, als wolle sie die Worte wirken lassen. »Aber er wollte Ihren Namen und Ihre Arbeitseinheit.« Die Anklägerin zündete sich eine Zigarette an, eine starke Sorte ohne Filter, wie sie sonst zumeist von Fabrikarbeitern geraucht wurde. »Ich habe gesagt, durch die Preisgabe dieser Daten könnte eine vertrauliche Untersuchung gefährdet werden.« Sie lächelte mißmutig und bedachte Shan mit einem selbstgefälligen Blick, während sie den Rauch aus ihrem Mund treiben ließ. »Aber eine Freundin von mir arbeitet im Pekinger Ministerium. Sie wird bald in Pension gehen. Ich habe sie angerufen. Es gab mal einen Inspektor Shan, hat sie gesagt. Er war Generalinspekteur des Wirtschaftsministeriums. Ein hartnäckiger Ermittler, wie er bei jedermann unbeliebt ist.« Sie nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette und betrachtete Shan. »Sie wissen schon. Dickköpfig. Nicht in der Lage, die Prioritäten der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu erkennen.«
    Die Formulierung war ihm vertraut. Sie entstammte dem Sprachgebrauch der tamzings , der Agitationssitzungen, in denen dem einzelnen jede staatsbürgerliche Unzulänglichkeit vor Augen geführt und ein entsprechendes Heilmittel eingebleut wurde, nicht nur im übertragenen Sinne.
    Shan bemerkte, daß seine Hände abermals wie von selbst ein mudra gebildet hatten, als wollten sie ihm etwas mitteilen. Die Finger waren verschränkt, nur die Mittelfinger wiesen nach oben. Der Diamant des Verstands. »Die Prioritäten der Partei, die Prioritäten des Staates, die Prioritäten des Arbeitsplatzes«, rezitierte er den ebenso vertrauten Refrain der politischen Katechismen, den man ihm mehr als einmal ins Gesicht gebrüllt hatte. »Ich habe in einer westlichen Zeitschrift mal eine Werbeanzeige für ein Buch gesehen. In zehn leichten Schritten zum gut organisierten Büro.« Er sah Xu mit ungerührter Miene an. »Das ist so ungefähr dasselbe.«
    Die Anklägerin lächelte frostig. »Dieser Inspektor Shan hat sich angeblich mit einigen Parteibonzen angelegt und vielleicht sogar gegen sie ermittelt. Es heißt, man habe ihn verschwinden lassen.« Sie öffnete den Mund, so daß der Rauch sich um ihre Lippen kringelte.
    »Der Vorteil des Verschwindens besteht darin, daß man danach nur noch wesentlich niedrigeren Erwartungen genügen muß«, sagte Shan und starrte auf seine Hände. »Alle Jungen der zheli sind in Gefahr. Es könnten noch weitere Morde geschehen.«
    »Meine Freundin hat im Wirtschaftsministerium angerufen. Die meisten Leute dort sind froh, diesen Shan los zu sein. Er hat allen das Leben schwergemacht. So stur wie ein ranghohes Parteimitglied. Aber als man ihm die Parteimitgliedschaft anbot, hat er abgelehnt.«
    »Der Mörder ist hinter den Jungen her. Nur hinter den Jungen.« Shan schaute zurück zu der Teestube, wo Loshi hinter dem Fenster saß und sie beobachtete. Ko hatte seinen teuren Wagen Major Bao überlassen. Es ergab keinen Sinn.
    »Ein Ermittler sollte Antworten liefern, sollte den Leuten das Leben erleichtern«, fuhr sie fort, als hätte sie keines seiner Worte gehört.
    Shan konzentrierte sich auf das Ende von Xus Zigarette. »Manchmal kann ein Ermittler nicht mehr tun, als die Menschen an ihr Gewissen zu erinnern.«
    Xu schürzte die Lippen, als fände sie die Bemerkung amüsant.
    »Ihr Mörder«, stellte sie fest. »Er hat vielleicht nur nach diesem einen bestimmten Jungen gesucht. Kublai. Vielleicht ist jetzt alles vorbei.«
    »Vielleicht will er aber auch alle umbringen«, sagte Shan.
    Xu zuckte zusammen. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Niemand könnte ungestraft eine ganze.« Ihre Stimme erstarb, und ihr Blick richtete sich auf den Horizont. Sie schüttelte den Kopf.
    »Was wollen Sie damit sagen, Genossin Anklägerin? Ein oder zwei Jungen sind egal? Aber zehn

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