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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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oder fünfzehn wären eine unannehmbare Verlustrate? Ein politisch peinlicher Umstand? Wie wär's mit fünf oder sechs? Vielleicht maximal zehn, ohne daß jemand wirklich Notiz davon nimmt?« Er ließ sie bei diesen Worten nicht aus den Augen. »Es sind ja schließlich bloß Waisenkinder und obendrein nur Kasachen und Uiguren.«
    »Manche Leute wittern überall Verschwörungen.«
    »Das hier ist die Volksrepublik, Anklägerin. Verschwörungen sind ihr Herzblut.«
    Ihr Blick loderte auf, und sie schaute kurz zu den anderen Tischen. Niemand schien ihnen zuzuhören. »Vorsichtig, Genosse. Ich weiß, was ich dem Staat schuldig bin.«
    »Wie schön«, erwiderte Shan, »daß Sie Ihren Job ernst nehmen. Was war es doch gleich? Die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen, nicht wahr?«
    Xu runzelte die Stirn und zog an ihrer Zigarette.
    »Vielleicht hat dieser Ermittler aus Peking vor allem eine wichtige Erkenntnis gewonnen«, sagte Shan. »Daß eine Arbeit im Dienst der Regierung nicht immer dasselbe ist wie eine Arbeit im Dienst des Volkes.«
    Die Anklägerin ließ den Blick über das Gelände schweifen. Shan tat es ihr nach und erkannte bei den Mah-Jongg-Spielern ein weiteres vertrautes Gesicht, trotz der überdimensionalen chinesischen Armeemütze, die der Mann sich tief in die Stirn gezogen hatte. Fat Mao.
    Der Pferdewagen fuhr in gemächlichem Tempo los.
    »Ich habe mich bei allen Dienststellen von hier bis Kashi und zweihundert Kilometer in östlicher Richtung erkundigt. Es ist kein weiterer Mord an einem Kind gemeldet worden.«
    Er starrte sie an. Sie hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Nach Kublai wurde noch ein weiterer Junge ermordet«, verkündete Shan. »Der vierte insgesamt.«
    »Nein. Das glaube ich nicht.«
    »Das haben Sie schon einmal gesagt, Genossin Anklägerin, als ich Ihnen mitteilte, daß Kinder sterben.«
    Xu legte die Stirn in Falten und erwiderte nichts.
    »Ein Junge namens Khitai wurde in der Nähe der großen Gebetsfahne in den Bergen ermordet. Sie kennen die Fahne, die ich meine.«
    »Ich kenne sie«, gab sie starr zurück.
    Shan nickte. »Man hat Sie dort gesehen.« Ein Gedanke kam ihm in den Sinn. Batu hatte geglaubt, Xu wolle die Jungen aufspüren und töten. Doch vielleicht verfolgte sie jemanden. Die Kamera sollte Überwachungszwecken dienen. Shan hatte gedacht, es ginge Xu dabei um Buddhisten und Dissidenten. Aber eventuell ging es ihr um den Mörder.
    Ihre Augen funkelten.
    »Womöglich bedeutet dies, daß Sie kurz vor einer Verhaftung stehen«, sagte Shan und erwiderte den wütenden Blick.
    »Man hatte dort vor drei Tagen eine kleine Gruppe Hirten beobachtet. Wir haben Ermittlungen angestellt. Ein Mitglied von Laus zheli hätte sich bei ihnen befinden können. Oder vielleicht mußten die Leute auch noch für das Armutsprogramm registriert werden.«
    »Zwei Tage«, sagte Shan. »Die Hirten waren vor zwei Tagen dort. An dem Tag, an dem der Junge gestorben ist.«
    Xu schüttelte den Kopf. »Drei.«
    Falls das stimmte, hatte Batu richtig vermutet, dachte Shan. Mehr als einer der Jungen der zheli waren zum Lamafeld gekommen, um die letzte Hausaufgabe der toten Lehrerin zu erfüllen.
    »Zeigen Sie mir die Leiche«, verlangte Xu barsch.
    Er schüttelte den Kopf. »Man hat Khitai beerdigt. Es wurde ihm genug Gewalt angetan.«
    »Dann ist auch nur ein Junge gestorben«, sagte Xu. »Mehr wissen wir nicht. Der Tod eines einzelnen Jungen könnte auf alles mögliche zurückzuführen sein. Wir führen eine offizielle Untersuchung durch. Bei der Autopsie wurde als Todesursache eine kleinkalibrige Schußwunde festgestellt. Es könnte sich um einen Jagdunfall handeln. Den Clans wurden kleinkalibrige Jagdwaffen gestattet.«
    »Ein Jagdunfall?« Anklägerin Xu war eine sehr komplizierte Frau, beschloß Shan. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, der Feudalismus sei daran schuld.«
    »Auch gut. Fraglos wird dadurch der zersetzende Einfluß der alten Clan-Strukturen verdeutlicht. Unverantwortlichkeit. Gesetzlosigkeit in den Bergen. Wir befinden uns im einundzwanzigsten Jahrhundert, Genosse. Das muß aufhören. Ich bin stets dazu bereit, den Opfern eines Verbrechens mit aller Macht meines Amtes beizustehen. Aber zuerst müssen diese Opfer mich darum bitten und ihre Aussagen über den Tod der anderen zu Protokoll geben. Ich bin nicht bereit, mich auf Gerüchte einzulassen, weder im Hinblick auf Lau noch hinsichtlich der Jungen. Die Mittel einer ganzen großen Nation stehen zu ihrer

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