Das Auge von Tibet
Schildkrötenlaster, der unter dem Wüstensand begraben lag. Einer der Mah-Jongg-Spieler grinste und ließ einen Goldzahn aufblitzen. Es war der Mao aus der Stadt, der ihm die Schuhe gebracht hatte. Neben Shan saß eine Frau in dem langen grauen Kapuzengewand der strenggläubigen Mohammedaner und las anscheinend in einem Gebetbuch. Als Shan sich erhob und reckte, stand die Frau ebenfalls auf, streckte die Hand aus und zupfte an seinem Ärmel. Es war Jakli.
»Der Wagen der Anklägerin ist vor fünfzehn Minuten hier vorbeigekommen. Sie hat angehalten und jemanden aussteigen lassen«, berichtete Jakli und nickte in Richtung der Teestube auf der anderen Straßenseite.
Shan ging hinten um die Werkstatt herum, überquerte die Straße am Rand des Geländes und eilte zu einem kleinen Fenster in der Seitenwand des Gebäudes. Am Tisch neben dem Vorderfenster saß eine gutgekleidete Frau. Ansonsten hielt sich in der Teestube nur noch ein alter Mann mit einem langen dünnen Bart und einer schwarzen dopa auf. Er saß in einer der Ecken neben einem kleinen Gasofen und lehnte schlafend an der Wand. Shan trat ein und nahm auf dem freien Stuhl gegenüber der Frau Platz.
»Fräulein Loshi, wenn ich mich recht entsinne«, sagte er. »Ich heiße Shan. Wir haben im Büro der Anklägerin miteinander gesprochen.«
Die Frau war völlig vertieft darin gewesen, aus dem Fenster zu schauen, und hatte ihn nicht bemerkt. Dann zuckte sie erschrocken zusammen. Statt etwas zu erwidern, nahm sie einen Gegenstand vom Schoß, ein kleines, längliches Objekt. Ein Mobiltelefon. Sie umklammerte es mit beiden Händen und legte die Handgelenke auf die Tischkante, als würde sie einen Schild von sich strecken.
»In zehn oder zwanzig Jahren wird man vielleicht soweit sein, daß auch in dieser Region Mobilfunknetze eingerichtet werden«, stellte Shan in gutmütigem Tonfall fest. »Eventuell dauert es auch ein wenig länger. Die Öffentliche Sicherheit möchte bestimmt nicht, daß solche Geräte an Orten wie diesem allzusehr in Mode kommen.«
Loshi sah ihn an und schaute dann unsicher nach draußen.
Shan musterte die nervöse junge Frau. Sie hatte ihre Augen stark geschminkt, und um ihren Hals hing eine teure Goldkette bis auf die hellrote Seidenbluse hinab. Anklägerin Xus Vorsichtsmaßnahme.
Loshi rutschte zur Kante ihres Stuhls vor. »Ich weiß. In der Stadt funktioniert es auch nicht. Aber die meisten Leute haben keine Ahnung. Ich habe mit einem der Hirten gesprochen. Das Telefon hat ihn eingeschüchtert. Er sagte, er hielte es für irgendein Mittel, mit dem Han-Chinesen andere Chinesen herbeirufen können, denn er habe noch nie jemand anderen mit einem solchen Ding gesehen, außer Amerikaner im Fernsehen«, erklärte sie zufrieden. »Wie Sie sehen, funktioniert es also in gewisser Weise doch.«
»Sie sind die Sekretärin der Anklägerin«, sagte Shan. »Hat Xu Ihnen auf dem Weg hierher irgendwelche Schreibarbeiten diktiert?«
Aber Loshi wandte den Blick nicht von dem Telefon ab. »Sie funktionieren in Shanghai. Und in Hongkong. In Hongkong hat jeder so eins. In Hongkong kann man damit sogar Faxe verschicken.«
»Oder hat Xu nur zu Ihnen Vertrauen?« überlegte Shan laut.
»Sie sollten nicht mit mir reden. Sprechen Sie mit der Anklägerin.«
»Sie sind hier. Die Anklägerin ist nicht hier.«
»Ich besitze Menschenkenntnis. Genau wie die Anklägerin. Schließlich arbeite ich ebenfalls für das Justizministerium.«
»Eine große Verantwortung.«
»Manchmal erhalte ich besondere Auszeichnungen«, sagte sie, als wolle sie ihn dadurch einschüchtern. »Geheime Auszeichnungen.«
Shan erinnerte sich an noch etwas anderes. Ko Yonghong von der Brigade nahm Loshi manchmal in seinem Auto ohne Dach mit, wie in amerikanischen Filmen.
»Wissen Sie über die toten Jungen Bescheid, Fräulein Loshi?«
Das Mädchen schien mit sich zu ringen. Sie legte das Telefon auf den Tisch, drückte einige Tasten und hob es dann mit einer seltsamen Gebärde ans Ohr, als wolle sie für ihre Ankunft in der großen weiten Welt üben. »Ich habe Tante Lau gemocht«, sagte sie in den Hörer, als würde sie mit jemandem telefonieren. »Einmal war ich krank, bin aber trotzdem mit der Anklägerin zu einer Ratssitzung gegangen. Tante Lau hat mir einige Kräuter gegeben und mich geheilt.«
»Haben Sie Lau nur bei dieser einen Gelegenheit gesehen?«
»Sie kam manchmal in die Stadt. Sie hat immer gelächelt. Sie hat mir ein Buch mit Gedichten gegeben, die von ehemaligen Soldaten
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