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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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gut«, sagte sie schließlich. »An der Fernstraße. Aber nicht um drei. Halb vier. Eventuell vier. Sie werden warten.«
    Jakli runzelte die Stirn, als Shan ihr von dem Gespräch berichtete. »Es sähe Xu ähnlich, einen Hinterhalt zu arrangieren. Vielleicht nutzt sie die zusätzliche Zeit, um einige ihrer Handlanger vorauszuschicken, getarnt als ganz normale Fernfahrer.« Sie war offensichtlich erschöpft, nachdem sie den Großteil der Nacht auf dem Pferderücken verbracht und mit den Maos nach den Kindern gesucht hatte. Im Morgengrauen war es ihnen gelungen, einen der Jungen aufzuspüren, der allein in einer Höhle kauerte. Die Maos hatten ihn ins Lager des Roten Steins mitgenommen.
    Shan zuckte die Achseln. »So weit entfernt von der Stadt wäre das gar nicht so einfach.«
    Jakli bedachte ihn mit einem ungehaltenen Blick, der jedoch zugleich ein gehöriges Maß an Zuneigung erkennen ließ, als würde eine Mutter ihr Kind betrachten. »Manchmal glaube ich fast, daß es stimmt, was viele Leute über Tibet behaupten.«
    »Und das wäre?«
    »Daß es die Menschen erneuert und alle früheren Erfahrungen von ihnen abstreift. Sie wirken bisweilen so unglaublich naiv.«
    Shan hätte beinahe laut aufgelacht. Falls jemand nach einem Synonym für das genaue Gegenteil von Naivität suchte, konnte der Betreffende statt dessen Shans Namen einsetzen.
    Jakli trat in den Schatten zwischen der Werkstatt und einem kleineren Gebäude, in dem zwei alte Lastwagen untergebracht waren. Dort stand mittlerweile Marco neben Sophie, in deren Sattel Batu saß. Jakli wechselte einige hastige Worte mit dem eluosi und deutete auf einen großen Laster hinter den Schuppen, an dessen Ladefläche ein Mann soeben lange Planken zu einer provisorischen Rampe anlegte. Marco salutierte spöttisch in Shans Richtung und wandte sich dann dem Fahrzeug zu. Fünf Minuten späten waren Sophie und die beiden anderen Kamele, auf deren Rücken sie aus den Bergen hergeritten waren, auf dem Laster untergebracht. Dann fuhr der Wagen los. Batu winkte ihnen vom Fenster aus zu.
    Während Shan den Blick über die altersschwachen Lastwagen, die Stapel verschlissener Reifen, die baufällige gelbe Teestube und die rissigen Wände der Werkstatt schweifen ließ, kam ihm der Gedanke, daß ganz Xinjiang einer riesigen Ansammlung von Ruinen zu gleichen schien, die sich nur in ihrem Alter unterschieden. Er ging auf die Wand der Werkstatt zu, die hier das größte Gebäude darstellte, und fühlte sich plötzlich sehr müde. Bis tief in die Nacht hatte er über seinen Notizen gebrütet und Khitais dürftige Habseligkeiten angestarrt. Kurz vor Sonnenaufgang waren sie aufgebrochen und auf einem anderen Pfad aus dem Tal geritten. Jetzt mußte er noch mindestens eine Stunde auf Xu warten. Er sah nach Lokesh, der hinter der Werkstatt schlafend auf einer Decke lag, und setzte sich dann auf einen der Reifenstapel vor der Wand. Der Platz erwies sich als überraschend bequem. Shan lehnte sich zurück und schloß die Augen.
    Bilder der heutigen Reise zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Er und Batu waren stundenlang neben Marco geritten und hatten langen Erzählungen aus dessen Jugend gelauscht, die von riesigen Zusammenkünften der Nomadenclans berichteten, wo unzählige Kamele Wettrennen veranstalteten und junge Mädchen sich im Bogenschießen maßen, um weiße Pferde zu gewinnen. Im Licht der frühen Dämmerung hatte Marco von den Sternen gesprochen, die er sehr gut kannte, nachdem er seit nunmehr fast dreißig Jahren nächtliche Karawanen anführte. Überrascht hatte Shan erfahren, daß der eluosi im gleichen Alter wie er selbst war, und Marco hatte laut darüber nachgesonnen, wie unterschiedlich ihrer beider Leben an den gegenüberliegenden Enden der Volksrepublik doch verlaufen war. Schläfrig erinnerte Shan sich an das Lied, das Marco ihnen beigebracht hatte, einen albernen Kinderreim über Kamele, die wie Vögel flogen. Sie hatten es gesungen, bis sie die Fernstraße erreichten.
    Als er die Augen wieder öffnete, war es bereits nach drei Uhr. Jemand hatte unterdessen die Freifläche zwischen den Gebäuden umgestaltet. Drei Tische, zwei davon große umgestülpte Kisten, standen jetzt draußen, und an jedem saßen zwei Gestalten und spielten Schach oder Mah-Jongg. Einige weitere Fahrzeuge parkten auf dem Gelände. Sie kamen Shan irgendwie bekannt vor. Er betrachtete sie eine Weile und erkannte dann, daß es sich um die Lastwagen aus dem Fuhrpark handelte, und zwar alle, außer dem

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