Das Auge von Tibet
ein altes Tiergehege handelte. Rabennest hing über diesem Pferch an der Felswand und war vom Tal durch einen mehr als fünfzig Meter hohen Steilhang getrennt.
»Es ist bestimmt nicht einfach, der Abt eines solchen Klosters zu sein«, sagte Shan.
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Ich meine Ihre Aufgabe. Die Verantwortung...«:
Der Mann lächelte schüchtern. »Aber ich bin nicht der Abt. Ich bin lediglich sein Gehilfe. Wenn der Abt nicht da ist, vertrete ich ihn.«
»Er ist nicht da?«
»Er ist auf der anderen Seite der Berge.«
Shan starrte den schimmernden See an. Vielleicht stimmte es. Man erlangte hier Einsichten in die Wahrheit. »Wie lange schon?«
»Nicht lange. Fünf oder sechs Jahre. Aber es geht ihm gut. Vor einiger Zeit ist eine Nonne hergekommen und hat uns von ihm berichtet.«
»Was genau hat die Nonne getan?«
»Sie hat uns die Botschaft überbracht. Keinen Brief. Sie sagte, ein Brief wäre zu gefährlich. Sie brachte uns eine getrocknete Blume, und da wußten wir Bescheid. Rinpoche meditiert gern, indem er sich auf eine Blume konzentriert. Die Nonne hat viel gelächelt und uns Weihrauch und Blöcke aus gepreßtem Tee gegeben. Außerdem hat sie darum gebeten, den Raum des Yakde aufsuchen zu dürfen. Dort hat sie lange gebetet, und dann ist sie nach unten gestiegen und hat sich an das Ufer des Orakelsees gesetzt. Sie sagte, ihre Lehrer hätten ihr früher oft von diesem Ort erzählt und sie freue sich, ihn vor ihrem Tod einmal persönlich besuchen zu können. Dann fragte sie, ob wir dem Abt eine Nachricht senden wollten, und hat sich Namen und Botschaft eines jeden von uns eingeprägt. Sie sagte, sie sei vor allem deshalb gekommen, weil der Abt sich um uns Sorgen machte.«
Lau war hiergewesen. Lau hatte vor dem thangka gesessen und zweifellos genau wie Bajys die Augen wiedererkannt. Dann war sie zum Orakelsee gegangen, nachdem sie die Nachricht des Abtes von Rabennest überbracht hatte, die Nachricht des Wasserhüters, der im Lager Volksruhm saß. Shan konnte sich noch deutlich an das heitere Gesicht des Lama erinnern - und auch an die getrocknete Blume, die zwischen seinen Fingern gesteckt hatte.
»Kommen gelegentlich auch andere Besucher?« fragte Shan.
»Die Hirten kommen«, antwortete der Mönch. »Manchmal bringen sie Getreide und neue Decken mit. Sie haben das gompa schon immer unterstützt, auch wenn sie sagen, sie könnten heutzutage nicht mehr ihre Kinder zur Unterweisung herbringen. Aber sie versorgen uns mit Nahrung.« Er schaute zu einem schmalen Felssims in etwa fünfzehn Metern Entfernung. Darauf befand sich ein Nest, in dem drei Raben saßen und die beiden Männer aufmerksam beobachteten. »Einmal jedoch hatten die Raben große Angst, und dann kam einer der Wolkenreiter. Laut wie Donnerhall.«
Shan schloß die Augen. »Was wollten die Leute?«
»Rinpoche, unser Ältester, saß oben auf seinem Felsen und freute sich. Er sagte, manche Buddhas würden genauso fliegen. Aber wir andern sahen, daß es bloß Chinesen waren.«
»Haben die Männer nach euch gesucht?«
»Nicht wirklich. Zuerst haben sie uns überhaupt keine Beachtung geschenkt. Wir konnten von hier aus verfolgen, daß sie sich lange Zeit am See beschäftigt haben. Dann bin ich in der Kleidung eines Hirten ins Tal hinabgestiegen. Da haben sie mich angesprochen. Der Anführer sagte, er wüßte, daß wir illegale Mönche seien. Er sagte, schlechte Chinesen würden uns verhaften, aber sie dort seien gute Chinesen und unsere Freunde. Dann kamen er und seine Leute mit zurück zum gompa , und wir haben ihnen Tee angeboten. Sie schenkten uns einige Schachteln mit süßen Keksen und fragten, wer wir seien, wie unsere Oberhäupter hießen und welcher Sekte wir angehörten.«
»Soll das heißen, es waren Wissenschaftler?« fragte Shan.
Der Mönch blickte einigen anderen Raben hinterher, die über dem See kreisten, als wollten sie eine Art Lufttanz aufführen.
»Nein, keine Wissenschaftler«, sagte er dann, ohne die Augen von den Vögeln abzuwenden. »Baumeister.«
»Das verstehe ich nicht.«
Der Mönch drehte sich zu Shan um. Er sah verwirrt aus, als würden ihm nicht die richtigen Worte einfallen. »Warte hier«, sagte er dann, lief zur Tür und ließ Shan allein zurück.
Shan schaute hinaus ins Tal und verspürte ein unerwartetes Wohlbehagen. Rabennest lag so hoch und der Horizont jenseits der Mündung des Tals war dermaßen weit, daß die Wolken unter ihnen hindurchzuschweben schienen, als wäre der Ort nicht mit dem
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