Das Auge von Tibet
ertönte eine Glocke. Die Mönche übergaben ihre Textseiten dem Abt und standen auf. Jowa ging neugierig zu den Regalen und betrachtete die zahlreichen pechas , die Reihen voller Sutras und Lehrtexte. Während der Abt die Seiten zu einem Stapel aufschichtete und diesen dann in einer Seidenhülle verstaute, begann er damit, Jowa einige Einzelheiten der Sammlung zu erläutern.
Shan trat hinaus auf den Gang. Eine Tür am anderen Ende war nur angelehnt. Dahinter saß Bajys vor einem langen thangka , das an der Rückwand des Raumes hing. Es zeigte das kunstvolle Abbild eines Mannes, der weder eine Verkörperung Buddhas noch einen der vielen berühmten Lehrmeister darstellte, die Shan normalerweise auf so einem Gemälde erwartet hätte. Der Teppich in diesem Zimmer war wesentlich wertvoller als alle anderen, die er bislang in dem gompa gesehen hatte. Genaugenommen schien der ganze Raum in einem deutlich eleganteren Stil gehalten zu sein als der Rest des Klosters. An der Wand hing eine reich bestickte Robe. Auf einem Tisch neben der Tür stand unübersehbar die Bronzefigur eines Lamas, bei dem es sich vermutlich um den antiken Lehrer Guru Rinpoche handelte.
»Was ist mit dir?« fragte Shan, der nichts von dem verstand, was Bajys seit ihrer Ankunft getan hatte.
Zum erstenmal seit Shan ihn kannte, lächelte Bajys. Vor der gegenüberliegenden Wand stand eine niedrige Holzpritsche. Bajys beugte sich hinab und strich das Bettzeug glatt. Vom Tisch neben dem Bett nahm er eine kleine bronzene dorje, den einem Zepter ähnelnden Stab der buddhistischen Rituale, und wischte sorgfältig den Staub von ihr ab. Dann warf er Shan einen überraschten Blick zu, als sei diesem etwas Wichtiges entgangen, das für Bajys ganz offensichtlich war. Er nahm Shans Ellbogen, führte ihn zu der Stelle, an der er gesessen hatte, und nickte in Richtung des thangka .
Shan wußte, daß Bajys noch nie zuvor hier gewesen war und nichts von der Existenz dieses Klosters gewußt hatte. Dennoch hatte er die Gestalt auf dem alten Gemälde erkannt.
»Seine Augen«, sagte Bajys ehrfürchtig.
Plötzlich begriff Shan, und es verschlug ihm den Atem. Das dort war der Yakde. Bajys hatte den kindlichen Lama in einem anderen Körper erblickt und wiedererkannt.
»Dies ist sein Zimmer«, sagte jemand hinter ihnen. Es war der kahlköpfige Mönch, der Abt. »Das Zimmer für die Besuche des Yakde.«
Bajys schenkte den beiden Männern ein kleines verwirrtes Lächeln und schaute dann auf die dorje in seiner Hand, als könnte er sich nicht erklären, wie sie dorthin gelangt war.
»Woher wußtest du, wo dieser Raum sich befindet?« fragte Shan. Bajys hatte nicht genügend Zeit gehabt, um die gesamte Anlage zu erforschen. Irgend etwas hatte ihn zum Ziel geführt. »Du bist zum erstenmal hier. Trotzdem hast du gewußt, daß dies sein Zimmer ist.«
»Es war einfach der Ort, an den ich gegangen bin«, sagte Bajys und rang nach den geeigneten Worten. »Ich konnte es nicht wissen«, fuhr er fort und betrachtete dabei die dorje, während er sie unaufhörlich zwischen den Fingern drehte. Viele Buddhisten bezeichneten die dorje als diamantenes Medium, als Symbol für das Zentrum der Erleuchtung und die unzerstörbare Kraft der Buddhaschaft. »Meine Augen wußten es nicht«, sagte Bajys respektvoll, als hätte womöglich die dorje ihn hergeführt. »Aber meine Füße wußten es.« Er blickte auf. Man sah ihm an, wie sehr es ihn quälte, das Geschehene nicht begreifen zu können, und doch lächelte er in einem fort.
Der Abt führte Shan eine weitere Treppe hinunter, vorbei an einem Lagerraum mit Körben voller Getreide und getrocknetem Dung. Shan blieb kurz an der Tür stehen und sah, daß nur ein Zehntel des Platzes genutzt wurde. An einer der Wände hingen große Seilrollen. Shan erinnerte sich, daß Batu ihnen beim Lamafeld erzählt hatte, Bajys habe behauptet, es kämen manchmal alte Männer, um die Flagge auf der mächtigen Felsformation zu reparieren.
Dann folgte er dem kahlköpfigen Mönch auf eine langgestreckte Terrasse, die durch den oben liegenden Vorsprung überdacht, aber nach drei Seiten offen war. Das Dach wurde nur von einigen gemauerten Säulen gestützt. Vor der Rückwand stand eine lange Reihe halbhoher Zylinder aus Bronze und Holz - Gebetsmühlen. Am anderen Ende befand sich eine große vierbeinige Kohlenpfanne, in der Duftopfer verbrannt wurden. Unterhalb, im Tal, sah Shan die Steinmauer, die ihm schon von oben aufgefallen war, und erkannte, daß es sich um
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