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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Rest des Planeten verbunden. Diese Abgeschiedenheit besaß eine ganz eigene Qualität, als wäre tatsächlich ein Stück der Welt abgebrochen und vom Wind fortgetragen worden, unbeeinflußt von der Zeit oder dem Geschehen an anderen Orten.
    Aber dann kehrte der stellvertretende Abt mit zufriedenem Lächeln zurück. In der Hand hielt er eine rote Nylonjacke und deutete nun auf ein Emblem auf deren Vorderseite. Dort waren ein Mann und eine Frau zu sehen, deren ausgestreckte Arme sich über einem Ölbohrturm, einem Schaf und einem Traktor auf einem Feld kreuzten.
    Shan fühlte sich, als hätte man ihm einen Tritt in den Magen verpaßt. Er wandte sich kurz ab und kämpfte gegen die plötzlich aufbrandende Bestürzung und Furcht an. Die Welt hatte Rabennest letztlich also doch entdeckt.
    »Es ist eine warme Jacke. Wir haben jeder eine bekommen«, sagte der Mönch in tröstendem Tonfall, als wolle er Shan gut zureden, sich keine Sorgen zu machen. »Wenn Rinpoche diesen Winter nach oben auf seinen Felsen steigt, kann er sie anziehen.«
    »Haben diese Leute ihre Namen genannt?« fragte Shan.
    Der stellvertretende Abt zuckte die Achseln. »Wir sprechen nicht besonders gut Mandarin, fürchte ich. Der Anführer hat viele Zigaretten geraucht, und wir konnten seine Augen nicht sehen, weil er eine sehr dunkle Brille trug. Er hat uns Fragen über den See gestellt.«
    Shan sah hinaus auf das schimmernde Wasser. »Was für Fragen waren das?«
    »Wann er gefriert, wie tief er ist, ob wir das Wasser trinken und durch welche Bäche er gespeist wird.«
    »Sie haben gesagt, die Männer hätten sich zunächst am See beschäftigt. Was genau haben sie dort getan?«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie gebetet. Vielleicht haben sie auch etwas davon getrunken. Es ist ein heiliger See, und zwar sogar schon seit der Zeit, als die Lehren Buddhas hier noch nicht bekannt waren.«
    »Und wie haben Sie die Fragen des Mannes beantwortet?«
    »Der See kann gar nicht versiegen, denn er hat keinen Boden. Und natürlich trinken wir das Wasser, auch im Winter, wenn wir sein Eis schmelzen. Aber er gefriert erst viel später als andere Seen.«
    »Weil er so geschützt liegt«, sagte Shan. »Weil er nach Süden weist und die hohen Wände die Wärme einfangen.«
    »Nein«, widersprach der Mönch mit nachsichtigem Lächeln. »Weil die Berggötter darin baden.«
    Shan nickte. »Und mehr hat er nicht gefragt?«
    Der Mönch starrte zum Himmel empor. »Er hat sich erkundigt, was für Tiere hier oben leben. Ich habe ihm erzählt, daß es in den tieferen Regionen viele Antilopen und wilde Yaks gibt und daß man in den Bergen auf Wildziegen, Luchse und Schneeleoparden trifft. Er wollte wissen, wie viele Leute man im gompa unterbringen könnte. Er sagte, uns würden vielleicht einige Arbeiter zu Hilfe kommen und später würden hier eventuell wichtige Leute übernachten wollen.«
    »Zu Hilfe?«
    »Um irgendwas zu bauen, glaube ich.«
    »Sind die Leute danach noch mal wiedergekommen?«
    »Zweimal. Beim erstenmal haben sie viele Eimer Wasser aus dem See geschöpft und mitgenommen. Beim zweitenmal haben sie zahlreiche Fotos gemacht. Und sie haben uns noch mehr von den süßen Keksen gebracht, die unsere Alten so gern mögen.«
    »Habt ihr bei diesen beiden Gelegenheiten eure Gewänder getragen?«
    »Nein. Er hatte uns darum gebeten, es nicht zu tun. Er sagte, das sei vorerst zu riskant, weil man nicht jedem Chinesen vertrauen könne. Aber er hat mir große Zuversicht eingeflößt.«
    »Sie meinen, weil diese Leute herkommen, um zu.« Ja, wozu eigentlich? überlegte Shan. Zweifellos um Tiere zu schießen, aber das war noch nicht alles. Nicht, wenn zuvor noch Arbeiter herkommen sollten. »Um zu bauen?«
    »Natürlich nicht, denn das konnten wir nicht gestatten. Aber ich habe mit den Alten gesprochen«, sagte der Mönch mit strahlendem Lächeln. »Ich habe ihnen erklärt, daß eine neue Zeit angebrochen ist und wir uns nicht mehr vor allen Chinesen zu fürchten brauchen.«
    »Wieso konnten Sie den Leuten keine Baugenehmigung erteilen?«
    »Wir sind nicht die Eigentümer, sondern nur die Verwalter des Tals und des Klosters. Wir warten auf die Rückkehr des Yakde Lama. Vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren, habe ich zu dem Mann gesagt.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Nur der Yakde Lama könnte eine solche Erlaubnis geben.«
    Auf einmal stiegen die Raben steil von dem Sims empor und flogen geradewegs zu ihren Artgenossen, die über dem See kreisten. Sie begannen so

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