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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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alle Bewohner verhaften und zu Zwangsarbeit verurteilen. Manche Mönche verließen lieber ihre Klöster, als irgendwelche Verpflichtungen zu unterzeichnen und eine Genehmigung aus Peking zu beantragen. Shan kannte viele, die diese Unterschrift geleistet hatten, starke, hingebungsvolle Lehrmeister, die einwandten, daß ein Stück chinesisches Papier keinen Unterschied bedeute. Andere hingegen behaupteten, daß niemand nach einer Unterschrift je wieder derselbe sein könne, weil diese Handlung einem dunklen Stein gleiche, der ins Gewässer ihrer Seele geworfen wurde, fortwährend kleine Wellen schlug und das Antlitz des inneren Gottes für immer veränderte.
    Als Shan den Blick über die anwesenden Mönche schweifen ließ, wärmte ihm eine plötzliche Erkenntnis das Herz. Obwohl man diese Männer vor den Chinesen gewarnt und ihnen eingeschärft hatte, ihre Gewänder zu verbergen, verrieten ihre Gesichter, daß sie noch keine persönlichen Erfahrungen mit Lizenzen gesammelt hatten und auch noch nie mit Regierungsbürokraten zusammengetroffen waren, die sie drängten, ihre eigenen Brüder zu bespitzeln. Nur der Jüngste hatte gezögert und zu der Bauernkleidung geblickt. Die Mönche in diesem Kreis waren wie die ungezähmten Wildtiere der Changtang, unbeeinflußt und rein. Eine fast ausgestorbene Art.
    Die Mönche saßen wortlos da und lächelten ihre Besucher strahlend an. »Willkommen im Kloster Rabennest«, sagte schließlich der Kahlköpfige.
    Zu Shans Überraschung ergriff Jowa als erster das Wort. »Bitte verzeiht unser Eindringen«, sagte er. »Wir sind wegen des Yakde Lama hier.«
    Alle Mönche nickten und lächelten dabei unverändert weiter.
    »Er hat hier gelebt«, sagte der Kahlköpfige. »Er wird zurückkehren.«
    Jowa warf Shan einen triumphierenden Blick zu und wandte sich dann wieder an den Mönch. »Der Junge Khitai? Er hat hier gelebt?«
    Die Mönche sahen einander verwirrt an.
    »Der Yakde«, sagte der Kahlköpfige und zuckte die Achseln, als würde er Jowas Fragen nicht verstehen. »Er saß oft mitten in einer Herde wilder Antilopen und meditierte«, erklärte der Mann fröhlich. »Er hat sogar einen Lehrtext darüber verfaßt. Wir haben ihn hier, in seiner eigenen Handschrift. Das war der Zweite. Der Vierte hat sich daran erinnert und kam her, um sich den Text auszulernen. Dann ist er damit nach Lhasa gereist und hat ihn dem Dalai Lama gezeigt.«
    Shan rechnete in Gedanken zurück. Der zweite Yakde mußte vor ungefähr dreihundert Jahren gelebt haben.
    Jowa drängte den Mann nicht, sondern tat etwas wahrhaft Bemerkenswertes. Er sah den Kahlköpfigen an und lächelte ein heiteres und gelassenes Lächeln, das Lächeln eines Mönchs.
    »Der Neunte«, sagte Shan kurz darauf. »Ist der Neunte hergekommen?«
    »Einmal«, erwiderte der Mönch. »Er hat einige Monate hier verbracht und einen Text über unsere Tätigkeit verfaßt. Die Seelen der Changtang-Berge, hat er ihn genannt.«
    Shan überlegte fieberhaft. Er sollte sich eigentlich nach Lau und nach dem Wasserhüter erkundigen. Doch sein Herz wollte eine andere Frage stellen. »Ist ckr Yakde nach Süden gereist, noch über Lhasa hinaus?« hörte er sich fragen. »An einen Ort namens Lhadrung?«
    Der Kahlköpfige nickte bereitwillig. Es mußte sich bei ihm um den kenpo, den Abt von Rabennest, handeln. »Sowohl der Dritte als auch der Fünfte. Zu einer Einsiedelei, tief im Gebirge. Und als das letzte Mal eine Armee kam, trafen Männer aus Lhasa hier ein. Weise Männer. Sie sagten, schickt eure jungen Mönche weg, damit sie sich verstecken. Einige von ihnen sind zu diesem Ort in den Bergen gegangen. Die dropkas haben Pferde und einige ihrer Kinder hergebracht. Sie wollten gegen diese neue Armee kämpfen, sagten sie, und ihre Kinder brauchten einen sicheren Ort, bis der Krieg vorbei sein würde.« Der Abt seufzte und trank einen Schluck Tee. »Im Jahr darauf bekamen wir einen Brief von einem unserer Mönche. Sie waren wochenlang geritten, immer nur nachts. In der Nähe einer Stadt tobte eine große Schlacht, ein schreckliches Blutvergießen, und die Invasoren schossen mit Kanonen in die Berge, wo unsere Leute waren. Am Ende trafen drei unserer Mönche und zwei der Kinder in dem Versteck in Lhadrung ein. Ein Junge und ein Mädchen.«
    Was hatte Gendun gesagt? Er sah das Kunlun-Gebirge mit den Augen eines Fremden, doch im Herzen war es ihm vertraut. Als er jung war, gaben seine Eltern ihn zu den Mönchen, und die brachten ihn weg.
    Aus einem anderen Gang

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