Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
möglich. Schließlich blieb Jowa wiederum stehen und verkündete, sie würden den Mondaufgang abwarten. Schweigend setzten sie sich an einem Felsen nieder, kauerten sich vor der Kälte zusammen und aßen jeder eine Handvoll tsampa, bis nach fast einer Stunde über den östlichen Gipfeln der Mond aufblinkte. Jowa stand auf, betrachtete die umliegenden Kammlinien und machte sich sogleich mit schnellen Schritten auf den Weg.
    Als sie den Abstieg in ein schmales Tal begannen, löschte Jowa das Licht. Er führte Shan nun mit größerer Sicherheit durch das zerklüftete Gelände. Im Schatten eines großen Geröllblocks reichte er Shan die Decke und wies ihn mit ernster Stimme an, sich nicht von der Stelle zu rühren. Dann verschwand er in der Dunkelheit.
    Shan setzte sich, schlang sich die Decke um den Leib und beobachtete die Sterne im Norden, wo irgendwo Gendun und Lokesh unterwegs sein mußten. Ob sie wohl Schutz vor dem Wind gesucht hatten? War auch ihnen jemand begegnet, der ihnen ein Licht in die Schwärze der Nacht mitgeben konnte?
    Er hatte den Helikopter nicht wieder von Rabennest wegfliegen gehört, obwohl die Maschine genausogut unbemerkt in entgegengesetzter Richtung abgeflogen sein konnte, zurück zu Kos Zentrale in Yutian. Was wollte Ko dort bei dem Kloster? Diese Frage ging ihm ständig durch den Kopf, ließ ihn nicht mehr los und erfüllte ihn mit einer beinahe genauso dunklen Vorahnung wie seine Sorge um Genduns und Lokeshs Wohlergehen. Ko verfügte in Tibet über keinerlei Amtsgewalt und keine Unterstützung. Sein Aufenthalt dort würde als ebenso illegal gewertet werden wie die Anwesenheit der Mönche in Rabennest. Aber Ko war nicht wie die anderen Behördenvertreter, die Shan kennengelernt hatte. Er war ein Teil des neuen China. Er strebte nicht nach einem höheren Regierungsamt, das in der Volksrepublik bislang den einzigen Zugang zur Macht dargestellt hatte. Er war nicht daran interessiert, kleine Jungen zu ermorden. Er interessierte sich nur für Geschäfte und hatte in jener Nacht im Kunlun vermutlich in dem Lastwagen gesessen, um im Namen der Brigade irgendeine Angelegenheit zu erledigen, die Shan noch immer nicht begriff. Ko witterte anderweitigen Profit, und zwar bei einer Handvoll alter illegaler Mönche, die mitten in der Wildnis ein vergessenes gompa bewohnten.
    Shan hörte ein Geräusch und sah eine Bewegung in der Dunkelheit. Dann erklang Jowas Stimme. »Hier entlang.«
    Zwei schwarze Schatten, Jowa und eine Gestalt in einem Kapuzenmantel, kamen aus der Finsternis zum Vorschein und führten ihn durch ein Felsgewirr, wobei sie sorgfältig die vom Mond beschienenen Flächen mieden, als befürchteten sie sogar in dieser abgeschiedenen Wildnis, daß jemand sie sehen könnte. Sie betraten eine Höhle, in der Jowas Begleiter eine Butterlampe entzündete. Dann gingen sie im trüben Dämmerlicht zehn Meter weiter, bis die Lampe plötzlich wieder gelöscht wurde. Jemand klopfte an eine Tür, gefolgt von quietschenden Scharnieren und einer hastig geflüsterten Silbe, die Shan nicht verstand und bei der es sich vermutlich um ein Kennwort handelte. Dann legte ihm jemand eine Hand auf den Rücken und schob ihn voran.
    Die Tür schloß sich mit metallischem Ächzen, und Shan spürte, daß sie einen anderen Ort betreten hatten. Es roch unvermutet nach Metall und Weihrauch, nach feuchtem Schaffell und Zwiebeln. Die Lampe wurde wieder entfacht, und zu seiner großen Überraschung sah Shan Betonwände. Jowa und ihr Führer gingen schnell voran, und als Shan ihnen hinterher eilte, bemerkte er, daß auch der Boden betoniert war. Sie kamen an schlafenden Personen vorbei, die auf Lagern aus getrocknetem Gras ruhten, dann an einigen einzelnen Männern und Frauen, die jeweils schweigend und kerzengerade an den Kreuzungen mit anderen Tunneln saßen, als seien sie Wächter in einem ausgedehnten Labyrinth. Mehrere der stummen Gestalten nickten Jowa zu und musterten dann unsicher Shan.
    Das hier war ein unmöglicher Ort. Er war zwar von purbas besetzt, aber keinesfalls von ihnen errichtet worden. Als sie eine zentrale Kammer durchquerten, in der Kabel von der Decke hingen und an deren Wänden kalte und leblose Neonröhren befestigt waren, sah Shan Hunde und Kinder und mehrere Tische, auf denen kleine Statuen von Buddha und anderen Lehrmeistern standen.
    Sie stiegen eine lange Treppe hinab, die nicht in den Fels geschlagen, sondern aus metallenen Gitterstufen gefertigt war und als Geländer rostige Rohre aufwies, und

Weitere Kostenlose Bücher