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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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laut zu krächzen, daß das Echo ihrer Rufe durch das gesamte Tal hallte.
    Der Mönch musterte die Vögel schweigend für einen Moment, nickte dann und drehte sich zu Shan. Er wirkte plötzlich ganz aufgeregt. »Du hast Glück«, sagte er fröhlich. »Die Wolkenreiter kehren zurück.«

Kapitel 16
    Shan und Jowa liefen über den Talgrund auf den Pfad zu, der nach Auskunft des Mönchs von den Hirten benutzt wurde. Den Gästen blieb noch genug Zeit zur Flucht, hatte der stellvertretende Abt bestätigt, denn die Raben spürten die Wolkenreiter stets schon aus großer Entfernung, so daß die Mönche zu Fuß bis zum See gelangen konnten, um dort am Ufer die Ankunft der Leute zu erwarten. Aber sie hätten von den Männern in der Maschine wirklich nichts zu befürchten, hatte er versichert. Außerdem gäbe es hier im Umkreis keinen anderen Zufluchtsort. Bis zum Sonnenuntergang blieben lediglich noch zwei Stunden, und dann wären sie der Herbstnacht im hohen Kunlun schutzlos ausgeliefert, würden kaum mehr die Hand vor Augen sehen und womöglich erfrieren. Manchmal ließ der kalte, trockene Wind arme Reisende einfach nur zusammenschrumpfen und wehte sie dann fort.
    Aber Jowa und Shan wußten, daß Gefahr drohte. Die Brigade kannte ihre Gesichter, und falls man sie beide in Rabennest erwischte, stünde auch die Sicherheit der Mönche auf dem Spiel. Widerstrebend zeigte der stellvertretende Abt seinen drei Gästen die alte Treppe im Felsen, die den einzigen Zugang zum Tal darstellte. In letzter Minute gab er Jowa eine verbeulte alte Laterne mit auf den Weg, eine kleine Blechdose mit einem Griff aus Draht und einem schmalen Glasfenster.
    Am Fuß der Treppe ließ Bajys sich mit unglücklicher Miene auf die letzte Stufe sinken. Jowa drängte ihn, sofort wieder aufzustehen, aber Shan bedeutete dem purba , er möge schon vorgehen. Dann wandte er sich zu Bajys um.
    »Es ist ein ziemlich langer Aufstieg«, sagte Shan nach einem Moment und betrachtete die steile, schmale Treppe, die hinauf nach Rabennest führte. Die Leute von der Brigade kannten Shan und Jowa, aber Bajys hatten sie noch nie gesehen. Ein weiterer Tibeter ohne Lizenz in diesem Kloster würde für Direktor Ko kaum einen Unterschied bedeuten.
    Als Bajys aufschaute, war der Schmerz auf seinem Gesicht einem Ausdruck der Dankbarkeit gewichen. »Als wir aus diesem Schneesturm kamen, fühlte es sich so an, als habe meine Welt sich verändert«, sagte er.
    Shan seufzte und blickte zu den Mönchen empor. Sie hatten sich auf der unteren Terrasse versammelt, trugen alle ihre roten Nylonjacken über den Gewändern und winkten. Shan streckte Bajys die Hand entgegen. »Ich würde gern eines Tages zurückkommen und dir bei der Reparatur dieses Fensters helfen«, sagte er.
    Bajys nahm seine Hand und lächelte erneut. Dann machte er sich an den Aufstieg zu den alten Mönchen.
    Shan holte Jowa am See wieder ein. Auch aus diesem Winkel wirkte das Wasser so leuchtendblau wie vom gompa aus, das hoch oben in den Felsen hing. Shan hielt kurz inne. Dann ging er zum Ufer, kniete nieder, trank einen Schluck und schöpfte mit beiden Händen Wasser, um sich das Gesicht zu waschen. Es schmeckte merkwürdig süß und prickelte auf der Zunge. Das heilige Wasser des Yakde.
    Eine Viertelstunde lang liefen sie den gewaltigen Hang hinab, an dessen oberem Ende das Kloster thronte. Plötzlich ertönte ein lautes Rotorengeräusch. Sie kauerten sich auf den Pfad, breiteten die Decke über sich aus und sahen den Hubschrauber vorbeifliegen und im oberhalb gelegenen Tal verschwinden. Dann sprangen sie auf und rannten den schmalen Ziegenpfad entlang, auf dem ihnen bei jedem Fehltritt ein hundertfünfzig Meter tiefer Sturz drohte, bis sie eine Gabelung erreichten. Ohne zu zögern, entschied Jowa sich für die südliche Abzweigung. Wenige Minuten später überquerten sie einen schmalen Paß. Der purba verharrte kurz, um sich an den Bergen zu orientieren, und hielt dann querfeldein auf einen langgestreckten, flachen Grat zu, der nach Westen hin abfiel. Sie hatten die untergehende Sonne genau vor sich.
    Jowa lief wortlos weiter und vergewisserte sich kein einziges Mal, ob Shan mit ihm Schritt halten konnte. Nach einer Stunde blieb er stehen und starrte auf das vorausliegende Terrain, um es sich im letzten rosafarbenen Tageslicht einzuprägen. Nach einer weiteren Viertelstunde hielt er inne und entzündete die Laterne. In dem trüben Licht, das sie spendete, war ihnen allenfalls noch ein schnelles Schrittempo

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